Mülheim. Das Rätsel um den lange verschütteten Stollen am Kassenberg ist gelüftet. Er hat einem Handwerk gedient, das in Mülheim ausgestorben ist.
Der bei Vorarbeiten für ein neues Wohngebäude aufgetauchte geheimnisvolle Stollen am Kassenberg hat bei einigen Mülheimern Erinnerungen geweckt. Auf der Spur eines Rätsels.
Diese Redaktion hatte berichtet, dass die vorbereitenden Erdarbeiten auf dem Grundstück Kassenberg 61, neben der seit Jahren als Schandfleck ruhenden Baustelle mit halb fertiggestelltem Terrassenhaus, zwischenzeitlich eingestellt worden waren. Ein großer Hohlraum mit Stahltür und dahinterliegendem Stollen war freigelegt worden. Der Bauherr ließ ihn verfüllen, eine Prüfung durch den Bodendenkmalschutz war nicht mehr möglich und unklar blieb zuletzt, welchem Zweck dieser Stollen in der Vergangenheit gedient haben könnte.
Auch der Nachfahre einer ehemaligen Besitzerin weiß nichts zum Stollen zu berichten: Kurtludwig Lindgens, letzter Lederfabrikant der gleichnamigen Familiendynastie, weiß nur noch, dass auch das Haus links von der Baustelle früher im Besitz seiner Großmutter Bertha gewesen ist, wie es auch alte Mülheimer Adressbücher ausweisen. Jenes rote Haus hat nach Lindgens’ Erinnerung seinen Großeltern als Wohnsitz nahe der Fabrik gedient. Von einem Stollen auf dem Nachbargrund sei aber nichts übermittelt in der Familienhistorie.
Felsenkeller der Mülheimer Brauerei Ibing lag weiter südlich am Kassenberg
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Ein Leser entdeckte etwas in einem der Bände von „Mülheimer Unternehmer: Pioniere der Wirtschaft“, was seiner Meinung nach zur Lösung des Rätsels beitragen könnte. Dort wird berichtet, dass die Brüder Friedrich und Richard Ibing im Jahr 1863 für 1525 Taler zwei Grundstücke am Kassenberg für den Aufbau ihrer Brauerei vom Steinbruchbesitzer Friedrich Osberghaus erwarben. Noch heute sei an Ort und Stelle der Zugang zu einem 78 Meter weit in den Berg führenden Felsenkeller zu sehen, heißt es in dem Buch. Doch jener Felsenkeller ist nicht der kürzlich entdeckte Stollen, er liegt um einiges südlicher als besagte Baustelle am Kassenberg, ist verortet bei Haus Nummer 17.
Eine andere Version halten gleich zwei andere Leser für eine mögliche Erklärung. So etwa der geschichtsinteressierte Gerd-W. Scholl. Er erinnert sich, dass es zwischen dem Steinbruch Rauen und dem Broicher Ruhrufer einen Tunnel und eine Verladebrücke gegeben habe. „Im Tunnel war die Strecke eingleisig bis zum Tunnelausgang, danach über die Verladebrücke zweigleisig, damit mehrere Waggons entladen werden konnten“, so Scholl.
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Mülheimer erinnert sich: „Wir sind durch den Tunnel bis zum Steinbruch gelaufen“
Seines Wissens nach ist der Tunnel in einem Bogen unter dem Kassenberg und der damaligen Eisenbahnstrecke der Ruhrtalbahn verlaufen und im Steinbruch ans Licht gekommen. „Mit dem Umbau der Mühlenberg-Kreuzung und dem Bau der Terrassenhäuser wurde die Verladebrücke abgerissen und der Tunnel verschlossen“, so Scholl. „Als Kinder haben wir die Verladebrücke als Sprungbrett benutzt. Oder sind durch den Tunnel bis zum Steinbruch gelaufen.“
Genau in diese Richtung denkt auch Wolfgang Nürnberg. Er erinnert sich noch genau an Verladebrücke und -bunker von Rauen, die unterhalb der ehemaligen Fabrikstraße für den Schiffstransport über die Ruhr angelegt gewesen seien. „Links neben dem Bunker war der Stollen, der direkt zu Rauen führte“, erzählt Nürnberg, der seine Kindheitstage ganz in der Nähe, an der Straße „Am Bahnhof Broich“, verlebte.
Bunker: „Der obere, kuppelartige Teil war für uns Kinder damals zugänglich“
Auch Jürgen Schulz von der nah gelegenen Lederstraße in Broich erinnert sich an einen Bunker, der vom Kassenberg bis hoch zum Rand des Steinbruchs führte. „Ein Eingang war am Kassenberg und ein weiterer am Ende der Felsenstraße. Uns Kindern erzählte man damals, dass der Bunker nach dem Krieg gesprengt worden sei und nicht mehr durchgängig zu betreten ist“, so der Broicher. „Der obere, kuppelartige Teil nahe der Felsenstraße mit dem dortigen Eingang lag etwas schräg im Gelände und war für uns Kinder damals zugänglich.“ Er sei Mitte der 1950er-Jahre für sie spannendes Versteck und Treffpunkt zugleich gewesen. Eine Verbindung zum Kassenberg habe es da schon nicht mehr gegeben.
„Interessant, aber auch nicht ganz klar“, nahm Axel Booß, Leiter der städtischen Bauaufsicht, diese Schilderungen vor zwei Wochen zunächst zur Kenntnis. Der jüngst vom Bauherren verfüllte Stollen sei wohl 20 Meter tief in den Berg reingegangen. „Dann traf man nach Auskunft des Architekten auf Fels. Sah wohl für ihn nicht zugeschüttet aus. . .“
Mülheimer Brauereien lagerten im Fels das im Winter geschnittene Eis der Ruhr
Kurze Zeit später lieferte Jürgen Schimanski vom Amt für Geodaten, Kataster und Wohnbauförderung Booß Pläne, wonach das betreffende Flurstück mit aufstehendem Wirtschaftsgebäude im Jahr 1890 im Eigentum der Bierbrauerei Heinrich Gelsam und Carl Tellberg war. „Brauereien haben nachweislich damals in den Kassenberg an verschiedenen Stellen Stollen in den Ruhrfels gebrochen, um dort zwischen Stroh das im Winter geschnittene Eis der Ruhr für den Sommer einzulagern, um das Bier zu kühlen“, so Schimanski.
Diesen Kenntnisstand berichtet auch Bernd Brinkmann, Autor des Buches „Mülheimer Brauereien“. Dort schreibt er, dass jenen Felsenkeller gar noch eine frühere Brauerei angelegt hatte, namentlich die Bairische Bierbrauerei Wilhelm Schroer, die auf der anderen Flussseite an der Ruhrstraße bis 1877 eine Gaststätte und Brauerei betrieb. Jene Brauerei habe an der Ruhrstraße offenbar nicht über genügend Lagerraum verfügt, so dass sich Schroer 1858 jenes Grundstück Kassenberg zugekauft habe, um dort einen Felsenkeller anzulegen. Schroer verkaufte den Grund am Kassenberg samt Eiskeller schließlich 1875 für 9000 Reichsmark an die Brauerei Gelsam & Tellberg.
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Bunker-Plan von 1944 zeigt den Verlauf des Stollens am Mülheimer Kassenberg
Im Zweiten Weltkrieg ist dieser Eisstollen laut Brinkmann und Katasteramt als Luftschutzraum genutzt worden. Noch im Bebauungsplan „Inn 13a“ aus dem Jahr 1968, der eine Hangbebauung am Kassenberg mit Terrassenhäusern ermöglichte, sei dieser Stollen als Bunker verzeichnet. Als Quellen benennt Schimanski auch einen Bunkerplan aus Mai 1944.
Im letztgenannten ist der Luftschutzraum an Ort und Stelle mit Verlauf des zugehörigen Stollens und Maßangaben zur Stollensohle, zum Gewölbe und zum Gelände kartiert. Das nur vom Kassenberg 61 aus erreichbare Bunkergewölbe lag demnach am Ende eines längeren Stollens und nur wenige Meter entfernt von der heutigen südöstlichen Gebäudekante jenes Hochhauses unter der Erde, das an der Straße „Ruhrblick“ in die Höhe ragt. Eine Verbindung zum Steinbruch Rauen ist in den Plänen jedenfalls nicht festgehalten.