Mülheim. Coach, Organisator und Kommunikator in einem: Der Mülheimer Lehrer Ulrich Bender hat den Wandel seines Berufs erlebt. Wo er Chancen sieht.
„Lehrer haben morgens Recht und nachmittags frei“, so lautet ein Witz, den Lehrkräfte gelegentlich von Menschen zu hören bekommen, deren Schulzeit spätestens mit dem Abitur zu Ende gegangen ist. Der stellvertretende Leiter des Mülheimer Otto-Pankok-Gymnasiums, Ulrich Bender, geht seit 35 Jahren als Lehrer für Englisch, Musik und Darstellendes Spiel in die Schule. Im Interview zum „Weltlehrertag“, der jährlich am 5. Oktober begangen wird, reflektiert er Realität und Wandel seines Berufes.
Warum sind Sie Lehrer geworden?
Ulrich Bender: Weil ich mit und für Menschen arbeiten wollte. Ich darf junge Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung begleiten, fördern und unterstützen. Das ist ein sehr lebendiger und erfüllender Beruf, der aber von den Lehrenden auch viel Energie fordert.
Mülheimer Lehrer: Grenze zwischen Beruf und Privatleben ist fließend
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Wie sieht es in Ihrem Beruf mit der sogenannten Work-Life-Balance aus?
Die hat es im Lehrberuf so nie gegeben. Hier haben wir es mit einem Work-Life-Blending zu tun, in dem sich die Grenzen zwischen beruflichem und privatem Leben nicht immer klar ziehen lassen. Schule ist heute ein Ganztagsbetrieb. Und auch wenn ich die Schule verlasse, verlässt mich mein Beruf nicht. Ich muss Unterrichtsstunden vor- und nachbereiten, Klausuren und Klassenarbeiten korrigieren oder mit Schülern, Eltern und Kollegen kommunizieren.
Brennt man da schnell aus?
Die Gefahr besteht. Im Lehrberuf kann man nur gemeinsam überleben. Man braucht eine gute Teamarbeit im Kollegium und pädagogische Inseln, wie Arbeitsgemeinschaften oder Lehr- und Lernprojekte, die man individueller und kreativer gestalten kann.
Was macht einen guten Lehrer aus?
Man muss junge Menschen mögen und sie ernst nehmen. Man darf sie mit seinem Fachwissen nicht überfrachten, sondern muss sie dort abholen, wo sie in ihrem Leben stehen. Das eigene Wissen ist wie ein Steinbruch, aus dem ich mir jeweils die Steine herausholen und auf das Maß bringen muss, das ich in einer bestimmten Lerngruppe benötige, um mein Wissen auf die Lebenswirklichkeit der Schüler herunterbrechen zu können. Schüler müssen verstehen, was das erlernte Wissen mit ihrem Leben und mit der Gesellschaft, in der sie leben, zu tun hat.
Lehrer muss sich heute auch als Coach und Sozialarbeiter bewähren
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Wie hat sich Ihr Beruf verändert?
Wir leben heute in hektischen und aufgeregten Zeiten. Das wirkt sich auch auf den Schulalltag aus. Als Lehrer muss ich nicht nur Wissen vermitteln, sondern mich auch als persönlicher Coach, als Kommunikator, als Organisator und manchmal auch als Sozialpädagoge und Sozialarbeiter bewähren. Der Grund dafür ist die zunehmende Individualisierung unserer Gesellschaft, in der wir als Lehrende weniger Gemeinsamkeiten voraussetzen können und erst einmal eine Lerngemeinschaft bilden müssen.
Das klingt nach einer strukturellen Überforderung...
Die kann es werden, wenn wir als Schule von unserer Gesellschaft nicht die personellen, technischen und räumlichen Möglichkeiten bekommen, die wir benötigen, um über die Wissensvermittlung hinaus grundsätzlich sinnvolle Bildungsziele zu erreichen: etwa Inklusion, Integration, individuelle Förderung, digitale Medienkompetenz, kommunikative und soziale Kompetenz.
„Wir müssen unsere Lehrpläne entschlacken“
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Was würde Lehrenden und Lernenden das Leben leichter machen?
Wir leben in der digitalen Informationsüberflutung, in der Wissen komplexer wird, aber auch schneller veraltet. Lehrende und Lernende müssen sich von der Illusion befreien, alles wissen zu können und alles wissen zu müssen. Deshalb müssen wir unsere Lehrpläne entschlacken und nicht mit immer mehr Inhalten überfrachten. Als Lehrende müssen wir den Lernenden ein solides Grundwissen vermitteln, das ihnen in ihrem Leben helfen kann, ihr Wissen praktisch anzuwenden, aber auch kontinuierlich zu erweitern und zu aktualisieren. Wir brauchen heute vor allem die Fähigkeit, Informationen zu bewerten, auszuwählen und mit anderen Informationen so zu vernetzen, dass wir sie in unserem Alltag ganz praktisch anwenden können.
Was wünschen Sie sich für Lehrende und Lernende?
Ich wünsche mir eine Schule, in der wir mit dem wohl kalkulierten Mut zur Lücke mehr Lerninseln haben, auf denen Lehrende und Lernende gemeinsam und kreativ Wissen entdecken und auf ihre Lebenswirklichkeit anwenden, so dass sie gemeinsam fürs Leben lernen und arbeiten und sich mit der so gewonnenen Zufriedenheit öfter als heute im Unterrichtsalltag ein Lächeln schenken können.