Mülheim. Überall fehlen Lehrkräfte, keiner weiß mehr, wie das aufzufangen ist. Die Zusatzbelastung ist riesig, so ein Lehrer einer Mülheimer Gesamtschule.
Er unterstützt die bundesweite Bewegung „Bildungswende jetzt!“ und freut sich auf den Bildungsprotesttag am Samstag in Köln, zu dem auch die Mülheimer Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft aufgerufen hat. Für den Lehrer einer Mülheimer Gesamtschule ist die Arbeit längst kein Zuckerschlecken mehr. Damit seine Offenheit für ihn keine negativen Folgen hat, mag er von sich selbst nur verraten, dass er „um die 40 Jahre alt“ ist. So kann er frank und frei erzählen, wie belastend der Alltag oft ist. Zum Telefoninterview am Vormittag verspätet er sich übrigens ein wenig – „ich musste gerade noch eine Schlägerei zwischen Schülern verhindern“. Sein Bericht:
„Anfang des Schuljahres sind bei uns eine ganze Reihe von Kollegen und Kolleginnen ausgefallen, wegen Langzeiterkrankungen und Schwangerschaften. Da musste das Kollegium von jetzt auf gleich 140 Stunden auffangen. Das ist nur mit viel gutem Willen möglich und durch extreme Mehrbelastung. Ich allein habe schon fünf Schulstunden pro Woche mehr, also quasi einen zusätzlichen Arbeitstag. Da muss man sich schon mal fragen, wie lange Menschen so etwas aushalten – und auch, wie lang ein System das erträgt.
„Das ist vielleicht vergleichbar mit der Personalsituation im Mülheimer Nahverkehr“
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Unser Job ist eher Berufung als Beruf. Man macht durchaus Sachen extra, damit es funktioniert. Doch jetzt stehen wir kurz vor dem Kollaps. Das ist vielleicht vergleichbar mit der schwierigen Personalsituation im Mülheimer Nahverkehr. Anders als ein Busfahrer, der ja nicht zwei Busse gleichzeitig lenken kann, schafft ein Lehrer eine solche Doppelbelastung schon mal. Aber eben nicht auf Dauer.
Kreative Lösungen im Kampf gegen den Lehrermangel werden leider nicht gern gesehen: Es gab die Idee, dass Schulen nur noch an vier Tagen in der Woche offen sind und die Schüler und Schülerinnen am fünften Tag von zu Hause aus lernen. Das ist in NRW schon mal versucht worden. Aber da kam sofort ein Brief aus Düsseldorf, man solle das schleunigst rückgängig machen.
„Bei uns sitzen in vielen Klassen schon mehr als 30 Kinder oder Jugendliche“
Personal fehlt an allen Ecken und Enden. Und leider ist nach der Ankündigung des Ministeriums, dass man den Lehrerberuf attraktiver gestalten will, bisher noch nichts gekommen. Zeitgleich werden die Lerngruppen immer größer. Bei uns sitzen in vielen Klassen schon mehr als 30 Kinder oder Jugendliche.
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Mülheims Bildungsentwicklungsplan ist für mich eine Farce: Anstelle immer weiter große Baustellen an den Schulen einzurichten, sollte man eine vierte Gesamtschule bauen. So könnte man Löcher stopfen. Aber nicht dadurch, dass man immer neue Container aufstellt. Die Schulinfrastruktur wächst ja nicht mit: die Lehrerzimmer, die Sporthallen, die Schulhöfe, die Fachräume. . .
„Man wird viele Stunden streichen müssen“
Ich glaube, dass es Unterricht, wie wir ihn bisher kannten, künftig immer seltener geben wird. Man wird viele Stunden streichen müssen. Leider hilft auch eine Idee wie die vom Hybrid-Unterricht – also eine Kombination aus Unterricht in der Schule und Unterricht zu Hause – nicht. Denn auch das muss ja irgendjemand machen. Man müsste den Schülern die Kompetenz beibringen, es allein zu bewerkstelligen – aber in der Corona-Zeit hat man gesehen, was dann passieren kann.
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Viele Schüler machen Dinge vor allem für ihren Lehrer. Und nicht für sich oder andere. Die Bindung ist entscheidend – wenn dafür keine Zeit mehr da ist, man nur noch als Maschine arbeitet, kommt nichts dabei raus.
„Die Industrie jammert oft, dass die Schüler zu wenig können“
Das alles ist kein reines Mülheimer Phänomen. Die ganze Gesellschaft muss sich im Klaren darüber sein, dass Bildung eine wichtige Investition in die Zukunft ist, dass sie Geld kostet. Es ist sinnvoll angelegt. Und müsste andernfalls sowieso ausgegeben werden. Die Industrie jammert oft genug, dass die Schüler zu wenig können, wenn sie von der Schule kommen. Sie fit zu machen, kostet dann auch viel Geld.“