Mülheim. Die Mülheimerin Sabine Walder verkauft Kindern Mode und schneidet ihnen die Haare. Ihr Geschäft in Selbeck läuft. Aber sie muss Schluss machen.
Wenn Eltern die Zotteln auf dem Kopf ihrer Kinder loswerden wollen, Jungs oder Mädels nach einem coolen Outfit verlangen, dann schauen Mülheimer Familien gern bei Sabine Walder in Selbeck vorbei. Seit 2007 führt die Mülheimerin an der Kölner Straße den Laden „Kinderstolz“ mit angesagten Klamotten – und Friseurstuhl in der Ecke. Als Walder Mitte der 2000er nach einer Geschäftsidee suchte, lag es nah, ihr Faible für Mode mit dem handwerklichen Geschick als Friseurmeisterin und der Freude am Kommunizieren zu verbinden. 16 Jahre lang ging dieser Plan auf. Im November ist trotzdem Schluss.
Seit längerem hadert die 59-Jährige mit der Personalsituation im Laden: Sie braucht verlässlich zwei Mitarbeiterinnen, die nachmittags einsatzbereit sind. Dann greift sie zur Schere und verpasst den jungen Kunden einen frischen Look. Die Angestellten sollen derweil Interessenten beim Kauf von Kleidung zur Seite stehen. Doch es findet sich kaum noch jemand für diese Aufgabe. „Viele Menschen“, so Walders Erfahrung, „haben seit der Coronazeit leider eine andere Einstellung zur Arbeit. Und Dienstleistung oder Handwerk will sowieso keiner mehr machen.“
Mülheimer Geschäftsfrau hat schon als Teenager auf dem Markt Eier und Obst verkauft
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Personelle Löcher zu stopfen wird schwieriger. Und alles allein aufzufangen, erst recht. Walder ist gesundheitlich angeschlagen. Mit „dreifachem Bandscheibenvorfall im Nacken“ kann Haareschneiden zur Qual werden. Da braucht’s „Physiotherapie, Tabletten und Wärmflasche“, um durch den Tag zu kommen. Und vielleicht auch wirklich diesen klaren Cut, der ihr nun bevorsteht. Obgleich: Sie wird das Geschäft vermissen, vor allem den herzlichen Kontakt zu den Menschen. Den Austausch hat sie schon als Teenager geliebt: „In den Ferien habe ich auf dem Markt gejobbt, Obst und Eier verkauft. Nachts um 2 sind wir zum Großmarkt gefahren, um 5 haben wir den Stand aufgebaut, um 7 ging’s los.“
Im Alter von 15 Jahren hatte ihr Berufsleben begonnen, die gebürtige Remscheiderin war als Azubi in den elterlichen Friseursalon in Solingen eingestiegen. Mit 21 war sie Meisterin. Und ging zum Haarpflege-Spezialisten Wella nach Düsseldorf. Als Personaltrainerin gab sie Seminare für Friseure, klärte auf über Haarfarben, Strähnchentechnik, „oder darüber, wie man Shampoo gut verkauft“.
Beruflicher Neuanfang mit Anfang 40 als junge Mutter
Nach acht Jahren wechselte Walder in den Wella-Vertrieb, reiste von einem Friseur zum nächsten, sogar hoch bis nach Sylt, um „alles von Haarfarbe bis zur kompletten Friseureinrichtung“ an Mann oder Frau zu bringen. Intensiv kommunizieren war weiterhin ihr Alltag, elf Jahre lang, dann kam die Tochter zur Welt. Und mit Anfang 40 stellte sich noch einmal die Frage nach einem beruflichen Neuanfang. „Teilzeit war bei Wella nicht möglich, da bin ich gegangen.“
Monate des Nachdenkens standen bevor: Was könnte ein intelligentes, zukunftsfähiges Geschäftskonzept sein, fragte sich die junge Mutter. Die Idee, ein Friseurgeschäft allein für Herren aufzumachen, spukte eine Weile im Kopf herum. „Aber dann hätte ich gern bis 21 Uhr geöffnet, weil Männer oft erst kurz vorher aus dem Büro kommen.“ Und weil es wichtig sei, „Öffnungszeiten für die Kunden zu machen und nicht für mich“. Die Idee war folglich nicht familienkompatibel, Walder verwarf sie. Und verfolgte mit Beharrlichkeit eine andere: die vom Kinder-Modeladen mit Haarschneidegelegenheit.
Mit 60-seitigem Businessplan auf die Selbstständigkeit vorbereitet
„Ich habe einen 60-seitigen Businessplan geschrieben. Ich wollte mir darüber klarwerden, welchen Bedarf es gibt, welche Größen ich anbieten muss, welche Kosten entstehen, wie viel so ein Geschäft abwerfen muss. . .“ Es erschien der angehenden Geschäftsfrau als unsinnig, in Konkurrenz mit Warenhäusern oder Outlet-Centern zu treten. „Ich brauchte Marken, die man sonst nicht so findet, die aber trotzdem nicht einfach nur teuer sind.“
Das Konzept reifte heran, 2006 entdeckte sie ein Baustellenschild an der Kölner Straße. Eine Ladenzeile werde dort entstehen, hieß es. Das war perfekt fürs Vorhaben, zumal der Stadtteil nah dran liegt an Ratingen, Hösel, Düsseldorf, Essen, an Orten mit zusätzlicher Kundschaft. „Im August 2007 habe ich eröffnet.“
„Durch die Kinder wird das hier schnell emotional, die erzählen alles Mögliche“
Eigentümer Hemmerle sucht einen Nachmieter
Was aus dem Ladenlokal in Mülheim-Selbeck nach dem Auszug von Sabine Walder wird, ist noch unklar. Das Geschäft liegt direkt neben einer Filiale der Bäckerei Hemmerle. Und auch die gesamte Immobilie an der Kölner Straße 430 gehört der Familie Hemmerle.
Peter Hemmerle, einer der Geschäftsführer, erklärte jetzt auf Nachfrage: „Wir suchen einen Nachmieter.“ Als idealen Nachfolger von „Kinderstolz“ könne er sich ein Geschäft vorstellten, „das zur Nahversorgung in Selbeck beiträgt, vielleicht zu Synergieeffekten mit der Bäckerei führt, Frequenz an den Standort bringt“.
Hemmerle kann sich zum Beispiel gut einen Zeitschriftenladen als neuen Nachbarn vorstellen, „aber wir sind auch offen für alles andere“. Kontakt: info@baeckerei-hemmerle.de.
Das Unterfangen lief prima an und ist bis heute mehr als auskömmlich. Am 25. November geht das Kapitel dennoch zu Ende. Walder wird dann auch den strukturierten Tagesablauf vermissen, glaubt sie. Sie möchte sich vielleicht ehrenamtlich engagieren, „etwas tun für jemanden, dem es nicht so gut geht wie mir“. Sie schwärmt von den Begegnungen, die ihr der Laden ermöglicht habe: „Ich kenne so viele Leute, das ist toll.“ Man sei dadurch „Teil der Gesellschaft“ und vielfach nicht nur oberflächlich miteinander verbunden. „Durch die Kinder wird das hier schnell emotional. Die erzählen alles Mögliche, von der Schule, von Weihnachten.“ Und während sie die Kleinen frisiert, kämen häufig auch die Mütter ins Reden. „Da geht’s dann durchaus auch mal um Intimeres, um Trennungen, Umzüge. . .“
Dass immer mehr inhabergeführte, besondere Läden verschwinden, ist nicht nur schade, weil Treffpunkte verloren gehen, „man nicht mal mehr eben ein Schwätzchen halten kann“. Es ist insgesamt eine ungute Entwicklung, findet Walder. „Wir verlieren Individualität, alles wird stupider und uninteressanter. Innenstädte werden zu Wüste. Die Vereinsamung schreitet voran, wenn fast alles nur noch über den Computer abgewickelt wird.“
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