Kreis Wesel. Landrat Ingo Brohl äußert sich im Exklusivinterview erstmals klar zu den Kiesabbau-Plänen. Er übt deutliche Kritik am RVR.

Lange hat sich Landrat Ingo Brohl (CDU) nicht zu den Auskiesungsplänen des RVR geäußert. Im NRZ-Interview bezieht er nun Stellung. Darin erhebt er Vorwürfe gegen die RVR-Verwaltung, fordert von Wirtschaftsminister Pinkwart ein Signal und erklärt, welche Möglichkeiten es noch geben könnte, um die erweiterte Auskiesung im Kreis Wesel zu verhindern.


NRZ: Wie geschockt waren Sie selbst von den Auskiesungsplänen?

Ingo Brohl: Die stumpfe Darlegung durch die RVR-Verwaltungsspitze und die Dimension haben mich schon sehr überrascht und irritiert.

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Warum haben Sie sich so lange zurückgehalten?

Ich habe mich bewusst zurückgehalten, weil ich es nicht geeignet fand, sich im Bundestagswahlkampf dazu zu äußern. Das Thema Kiesabbau ist nichts für Parteipolitik und Wahlkämpfe.


NRZ: Wie sieht Ihr Standpunkt zu den Kiesabbauplänen des RVR denn aus?

Brohl: Das generelle Thema ist nicht neu. Der SPD-Abgeordnete René Schneider hat dies selbst zuletzt auch noch einmal herausgearbeitet. Die Rot-Grüne-Vorgänger-Landesregierung hatte die Bedarfsvorsorge auf neue Füße gestellt und den zu planenden Versorgungszeitraum auf 20 Jahre festgesetzt. Problematisch ist jedoch, dass dabei die Bedarfsermittlung aus dem historischen Verbrauch entwickelt und fortgeschrieben wird - sozusagen ein sich selbst fütterndes dynamisches Abgrabungssystem. Dieses System der Bedarfsermittlung hat dann leider auch die schwarz-gelbe Landesregierung übernommen und den Vorsorgezeitraum auf 25 Jahre angepasst. Allein daran sieht man, dass es kein parteipolitisches Thema ist, sondern, dass es um Ressourcenumgang geht. Es geht um die bäuerliche Kulturlandschaft, die wir erhalten müssen. Für den Kreis selber ist die Resolution handlungsleitend, die wir 2019 auf den Weg gebracht haben. Darin steht auch, wie wir das System der Bedarfsermittlung ändern und mit einem endlichen Rohstoff besser umgehen. Wir müssen bis zum Jahr 2039 schrittweise auf einen Bedarf von 50 Prozent runterkommen.


Wie?

Ähnlich wie beim Kohle- und beim Atomausstieg brauchen wir eine politische Entscheidung, nämlich eine Art Abdämpfung. Null-Kiesabbau ist sicherlich in absehbarer Zeit nicht realistisch. Nach jetziger Bedarfsermittlung würde beim momentanen Abbautempo aber die Fördermenge immer weiter steigen. Und das widerspricht der Resolution des Kreistages und unserer Kommunen, es widerspricht meiner Meinung von Nachhaltigkeit und auch allem, was das Bundesverfassungsgericht zum Thema Nachhaltigkeit uns ins Stammbuch geschrieben hat.


Auf einer ersten Infoveranstaltung in Kamp-Lintfort machten Bürgerinitiativen und Landwirte Mitte September auf die Gefahren des erweiterten Kiesabbaus aufmerksam.
Auf einer ersten Infoveranstaltung in Kamp-Lintfort machten Bürgerinitiativen und Landwirte Mitte September auf die Gefahren des erweiterten Kiesabbaus aufmerksam. © FUNKE Foto Services | Arnulf Stoffel

Sie haben die bäuerliche Struktur des Niederrheins angesprochen. Was wollen Sie tun, um diese zu erhalten?

Ich habe den Wirtschaftsminister (Andreas Pinkwart, FDP) angeschrieben und ihn gebeten, bis zum Klageergebnis ein Moratorium für neue Flächenausweisungen zu verhängen. Ich finde, dass er sich den Gesprächen im Kreis Wesel stellen muss.


Und?

Ich habe noch keine Antwort. Ich bin gespannt. Ich bin weiterhin bei den politischen Vertreterinnen und Vertretern im RVR mit der gleichen Forderung unterwegs, keine Offenlegung zu beschließen, bis wir Rechtssicherheit haben. Wir müssen uns auch auf den Flächen ehrlich machen. Wir haben eine hohe Anzahl von gepachteten Flächen, auf denen der Landwirt nicht Eigentümer ist, über die er auch nicht verfügen kann. Aber natürlich stehen auch einige Landwirte vor der Entscheidung, gegebenenfalls auf das Angebot der Kiesindustrie einzugehen, zum Beispiel, weil die Hof-Nachfolge nicht geregelt ist.

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Was können Sie noch tun?

Ich bin bereit, den Kreistagsbeschluss zum Thema Aufforstung hier strategisch einzusetzen. Vielleicht könnte es eine Idee sein, Bestrebungen des Kreises als Öko-Modellregion hiermit zu verbinden und eine Bewirtschaftung der Flächen als Agro-Forst, also der Kombination von Gehölzbeständen mit Ackerkulturen, zu fördern. Wir würden als Kreis versuchen, Teile der jetzt ausgewiesenen Flächen für eine andere Nutzung zu sichern. Ich gehe davon aus, dass dies auch der politische Wille des Kreistages ist und wir damit in mehr Biodiversität investieren.


Soll das heißen, dass der Kreis die Flächen kaufen würde?

Ja, dazu bin ich als strategische Notlösung bereit.


Primäres Ziel bleibt aber, diese Flächen als landwirtschaftliche Flächen zu erhalten?

Ja, definitiv. Wir haben hier jetzt schon einen hohen Flächendruck, unter anderem auch durch Gewerbe- und Wohngebiete. Wenn jetzt noch der Kiesabbau dazu kommt, mit dieser schieren Größe, die jetzt ausgewiesen ist, wäre das erschreckend.


Wie groß ist der Spagat, den Sie eingehen müssen, um den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger und gleichzeitig der Landesregierung gerecht zu werden?

Ich bin gewählter Landrat des Kreises Wesel und vertrete dessen Interessen. Ich kann jede Landesregierung und auch die Planungsbehörde verstehen, dass man Baustoffe sicherstellen muss. Ich rede auch nicht davon, den Abbau auf Null zu bringen, aber das, was momentan vorliegt, ist nicht das, was die Struktur des Kreises verträgt, und auch das Thema regionale Lebensmittelerzeugung, unsere Lebensmittelsicherheit und -qualität ist ein strategisches Ziel. Dies sollte es auch für eine Landesregierung und eine Planungsbehörde sein.


Allein in Kamp-Lintfort und Neukirchen-Vluyn belaufen sich die geplanten Erweiterungsflächen für den Kiesabbau aut mehr als 400 Hektar.
Allein in Kamp-Lintfort und Neukirchen-Vluyn belaufen sich die geplanten Erweiterungsflächen für den Kiesabbau aut mehr als 400 Hektar. © dpa | Roland Weihrauch

Also ist der RVR nicht Ihr einziger Adressat?

Ich sage das auch Richtung Landesregierung. Die hat ja durchaus Erfahrung mit Bürgerprotesten gesammelt, gerade in dem Spannungsfeld von Rohstoffgewinnung und Nachhaltigkeit unter Umweltgesichtspunkten. Ich glaube, wir würden alle gut daran tun, uns zu überprüfen, die Bedarfsermittlung zu ändern und auch innezuhalten. Entweder, um ein klärendes Urteil zu bekommen oder ein anderes Verständnis von zukünftigen Bedarfen zu entwickeln.


Wie geht es weiter? Am 6. Oktober gibt es eine Abgrabungskonferenz, der schon viele Städte im Kreis eine Absage erteilt haben.

Ja, ich auch. Da kommen wir zu einem weiteren Kernproblem.


Inwiefern?

Die RVR-Verwaltungsspitze hat sich, nachdem der erste Versuch der Regionalplanung gescheitert war, das Thema persönlich auf die Agenda geschrieben. Ich hatte die Regionaldirektorin (Karola Geiß-Netthöfel, Anm. d. Red.) gebeten, vor der Veröffentlichung der Vorlage mit mir in den Dialog zu treten. Das ist abgelehnt worden. Und auch jetzt ist die Terminkoordination jenseits meines Kalenders gelaufen. Ich habe schon das dringende Bedürfnis, dass man auf dieser Ebene anders mit uns umgeht. Vor allem, wenn man vorher bereits signalisiert, dass man Gesprächsbedarf hat. Bei allem Verständnis für die Planungsbehörde, die einen Landesentwicklungsplan umsetzen muss, befremdet mich der Umgang mit dem Kreis Wesel sehr.


Sehen Sie vor dem Hintergrund noch eine Möglichkeit, mit dem RVR in einen konstruktiven Dialog zu treten?

Ich habe bewusst auf die Verwaltungsspitze abgestellt. Es gibt ja zum Glück noch ein politisches Gremium im RVR. Und dieses Gremium und jeder Politiker sollte sich anschauen, wie man mit dem Kreis Wesel umgehen möchte, vielleicht auch Austrittsdebatten die Spitze nehmen möchte, indem man sich vielleicht auch hinter der Position versammelt, dass man, solange keine Rechtssicherheit besteht, nicht über die Ausweisung der Flächen entscheidet. Das ist das Recht des Ruhrparlaments. Und auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sollte sich jeder Politiker noch einmal vor Augen führen. Momentan ist die schlechte Kommunikation vor allem ein Signal, das die Verwaltungsspitze aussendet und damit mögliche Sympathien für mögliche Austrittsdebatten eher unterstreicht als sie zu brechen.

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Das heißt, Sie haben sich mit dem Thema RVR-Austritt beschäftigt und sind nicht abgeneigt?

Na ja. Die RVR-Verwaltung gibt an verschiedenen Stellen den Sound und den Umgang mit dem Kreis Wesel vor. Ich kann auch nicht feststellen, dass man ein Verständnis davon hat, wie der Kreis Wesel tickt oder was er braucht. Ich glaube, jetzt wäre es an der Zeit, dass das Ruhrparlament deutlich zeigt, dass wir im RVR gleichberechtigt unterwegs sind und nicht, dass wir irgendwie in einem Randgebiet leben, das man nicht beachten muss.


Halten Sie den Einfluss des Ruhrgebietes im RVR für zu groß?

Ich halte den Einfluss der Verwaltung im Moment für zu groß. Was die Ruhrgebietsstädte angeht, erlaube ich mir kein Urteil, aber ich halte das, was die Verwaltung im Moment macht, auch gegenüber dem Parlament doch als sehr machtvoll. Mir fehlt auch das Signal, dass man das Problem grundsätzlich verstanden hat. Und beim Thema Kies geht es nun wirklich ums Eingemachte. Es geht um unsere niederrheinische Heimat. Allerdings verstehe ich auch den Konflikt, in dem sich die RVR-Behörde befindet. Dennoch kann man damit anders kommunikativ umgehen. Gerade deshalb wünsche ich mir ein Signal vom NRW-Wirtschaftsminister.


Die Klage liegt beim OVG Münster, ohne dass sich da bislang etwas getan hat. Dabei steht das gesamte Thema unter einem starken zeitlichen Druck. Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?

Wir dürfen den Gesprächsfaden nicht verlieren. Überall, wo machbar, werden wir uns Gehör verschaffen. Wir werden auch zu einer weiteren alternativen Rohstoffkonferenz einladen. Es gilt jetzt vor allem, im Schulterschluss mit allen zu zeigen, dass das nicht die Zukunft des Kreises Wesel und des Niederrheins sein kannt. Es gibt bei diesem Kampf keine Parteibuchpolitik, und auch mit den Bürgerinitiativen und Heimat- und Verkehrsvereinen sind wir gut aufgestellt.


Wie sieht der konkrete Fahrplan für sie im Zusammenspiel mit den Landwirten, der Bürgerinitiativen und der hiesigen Politik im Kreis Wesel aus?

Im Kreistag haben wir alles Grundlegende getan. Ich setze darauf, dass sich der Wirtschaftsminister auch persönlich einmal der Situation im Kreis Wesel stellt und auch dafür mal eine Gesprächsrunde eröffnet. Ich hoffe darauf, dass auch die RVR-Verwaltung nicht nur eine Abgrabungskonferenz, die nicht koordiniert ist, exekutiert, sondern tatsächlich zuhört. Der Niederrheinappell hat für den gleichen Tag ja auch noch zu Aktionen eingeladen. Wir schauen auf die Klage, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sind untereinander abgestimmt. Wir müssen jetzt in jedem Bereich deutlich machen, worum es hier geht. Immer dann, wenn man irgendwo Entscheidungsträger oder Einflussgeber trifft, muss man sie damit konfrontieren. Und das geht auf vielen Ebenen.


Noch ein Wort zum RVR-Austritt. War es vernünftig, das so zu fordern? Auch mit der Vehemenz?

Es hat zumindest dazu beigetragen, dass deutlich wurde, dass wir das Thema Kies nur gemeinsam regeln können. Der Austritt wäre aber auch nicht die Lösung des Kiesproblems. Aber seitdem hat sich die Diskussion auf dieses Kernthema fokussiert, weil alle jetzt verstanden haben, worum es geht. Aber: Wenn man den Eindruck hat, dass eine RVR-Verwaltung nicht sehr niederrhein-affin mit dem Kreis Wesel umgeht, dann kann ich verstehen, dass man mit einem Wechsel in ein anderes Planungsgebiet liebäugelt. Aber ich hoffe jetzt auf ein Signal des Ruhrparlaments an den Kreis Wesel.