Neukirchen-Vluyn. Ulle Schauws ist Bundestagsabgeordnete für Neukirchen-Vluyn/Moers/Krefeld. Im Interview spricht sie über Geschlechtergerechtigkeit und Gewalt.

Ulle Schauws ist Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90 / Die Grünen für den Bereich Neukirchen-Vluyn/Moers/Krefeld. Seit 2013 ist die 54-Jährige Mitglied des Bundestages und dort seit 2018 frauen- und queerpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist Ulle Schauws stellvertretende Vorsitzende. Die NRZ-Redakteurin Sonja Volkmann hat mit ihr über Geschlechtergerechtigkeit, Gewalt, die Folgen der Corona-Krise und über die Atmosphäre im Bundestag gesprochen.

Frau Schauws, wie bewerten Sie den aktuellen Stand in Punkto Geschlechtergerechtigkeit?

Interessant ist, dass im Jahr 2021 die Geschlechtergerechtigkeit immer noch nicht da ist, wo sie sein müsste. Wir haben ein Parlament, in dem es knapp über 30 Prozent Frauen gibt. Wir haben immer noch keine deutliche Verbesserung bei der gleichen Bezahlung. Der Gewaltschutz und die Frauenhaussituation haben sich immer noch nicht verbessert. Es sind zu wenig Frauenhausplätze da, die Finanzierung ist schlecht. Wir haben immer noch die Situation, dass durch steuerliche Anreize Frauen eher zuhause bleiben sollen. Eines der größten Themen, bei denen wir noch nicht da sind, wo wir hinmüssen, ist die Vereinbarkeit von Arbeit und Familienbetrieb. Die Betreuung von Kindern und zu pflegenden Angehörigen stellt für Frauen eine hohe Belastung dar. Die Abschaffung des Ehegattensplittings ist nicht gelöst. Insofern bleiben die Nachteile beim beruflichen Fortkommen und später bei der Rente.

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Mit Blick auf die Corona-Krise drängt sich der Eindruck auf, dass sich traditionelle Rollenbilder wieder stärker verankert haben. Sehen Sie das auch so?

Das beobachte ich auch. Die Frage, wie mit der Krise umzugehen ist, war für alle neu, beispielsweise, wie man mit einem Lockdown umgeht. Ich habe dann einen Antrag in den Bundestag eingebracht mit dem Titel „geschlechtergerecht aus der Coronakrise kommen“. Es wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass diejenigen, die die Arbeit mit den Kindern zu Hause wuppen, vor allem die Frauen sind: Homeschooling und Homeoffice. Es waren auch viele Männer, die mit in die Verantwortung gegangen sind, aber das hat sich über die Monate vor allem zuungunsten der Frauen ausgewirkt. Ich kann Ihnen ein Beispiel nennen, wo die Krise zu einer eklatanten Ungerechtigkeit führt.

Nämlich?

Das Kurzarbeitergeld ist etwas, an dem sich das sehr konkret messen lässt. Es ist eigentlich gut, um Menschen abzusichern. Aber: Es wird nach der Steuerklasse bemessen. Und es gibt ganz viele verheiratete Frauen, die Steuerklasse fünf haben. Immer noch. Wir Grünen wollen diese Steuerklasse schon lange abschaffen. Wenn Sie Steuerklasse fünf haben und Ihr Kollege Steuerklasse drei, würde er mehrere hundert Euro mehr Kurzarbeitergeld bekommen. Und es wird nirgendwo steuerlich ausgeglichen. Das ist ungerecht. Wir möchten, dass das Geld nach Steuerklasse vier statt fünf berechnet wird. Hinzu kommt: Es sind öfter Frauen, die ein geringeres Einkommen haben. Das ist insbesondere bei Alleinerziehenden ein Thema. Zudem fallen viele Mini-Jobs weg. Das hat sich vor allem zuungunsten von Frauen niedergeschlagen.

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Sie haben eingangs den Gewaltaspekt benannt und vor Weihnachten davor gewarnt, dass über die Feiertage mit einer Zunahme häuslicher Gewalt zu rechnen sei. Diese Gefahr zieht sich durch die gesamte Pandemie. Hat sich Ihre Sorge bestätigt?

Es ist schwierig, das in Zahlen zu bemessen. Es ist ganz oft so, und das wird von Frauenhäusern und den Beratungsstellen bestätigt, dass in der Krise selbst und in der härtesten Phase des Lockdowns die Menschen nicht mehr aus ihrem familiären Kontext rauskommen. Es ist nachvollziehbar, dass die Zahlen währenddessen nicht steigen, da ganz oft Frauen keine Möglichkeit haben, eine Beratungsstelle anzurufen, weil sie sich viel im Umfeld des Aggressors aufhalten. Auch nach dem ersten Lockdown war ein Anstieg der Zahlen erst zu einem späteren Zeitpunkt spürbar, allerdings nicht in der krassen Form, in der es anfangs befürchtet worden war. Dennoch, und das ist der Punkt: Insbesondere Frauen, die sich ohnehin in einer angespannten Situation befunden haben, in der Gewalt spürbar war, haben die ganze Zeit Angst vor einer Eskalation. Aber es haben eben auch Frauen eine Eskalation erlebt, die nicht damit gerechnet haben. Ich bin in engem Austausch mit den Dachverbänden und den Fachberatungsstellen. Die Sorge vor Gewalt gegen Frauen und Kinder ist nach wie vor sehr hoch, weil der Druck weiter steigt.

Wird Ihnen von den Beratungsstellen gespiegelt, dass die Sensibilität von Freunden und Nachbarn zugenommen hat und das Umfeld genauer hinschaut?

Bei dem ganzen Thema häusliche Gewalt ist es so, dass die Sensibilität geschärft worden ist, weil medial darüber berichtet wurde. So schlimm das Thema ist, aber es ist noch nie so viel darüber gesprochen worden wie in den vergangenen Monaten. Das Bewusstsein, dass es sehr brisante Situationen in Familien und für die Kinder gibt, ist gestiegen. Es ist nicht so, dass alle Menschen mehr aufeinander achten. Aber dass es eine gewisse Sensibilisierung gibt, sagen die Fachberatungsstellen, Dachverbände und die Polizei.

Gleichwohl führt der erhöhte Druck augenscheinlich nicht dazu, dass über eine verbesserte Finanzierung von Frauenhäusern und von Beratungseinrichtungen diskutiert wird. Oder doch?

Eine wichtige Frage. Seit 40 Jahren sind Frauenhäuser unterfinanziert. In NRW gibt es in der Regel kaum noch freie Plätze. Die Finanzierung ist aktuell noch Angelegenheit der Länder und der Kommunen. Ich bin aber seit vielen Jahren davon überzeugt, dass der Bund hier in die Verantwortung genommen werden muss. Das würde die Situation auf lange Sicht deutlich verbessern. Die Landesregierung NRW ist der Meinung, dass es ausreichend ist, was an Frauenhauskapazitäten vorhanden ist. Das kann ich nicht bestätigen.

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Nun zu einem anderen Thema, das eine ganz andere Lebenswirklichkeit betrifft, für die Sie sich zuletzt eingesetzt haben: das Sorgerecht gleichgeschlechtlicher Mütter. Was genau ist da eigentlich das Problem?

2017 haben wir die Ehe für alle eingeführt. Das müsste eigentlich auch bedeuten, dass wenn ein lesbisches Paar miteinander verheiratet ist und eine der beiden Frauen ein Kind bekommt, automatisch beide Frauen rechtliche Elternteile sind. Bei einem heterosexuellen Paar wird der Ehemann in dem Fall automatisch rechtlicher Vater. Egal, ob er der biologische Vater ist. Das Ziel ist, dass ein Kind in einer Ehe bestmöglich abgesichert werden muss und es von Anfang an zwei rechtliche Elternteile hat. Das müsste man jetzt eigentlich nur auf die zweite Mutter übertragen, wozu das Abstammungsrecht geändert werden müsste. Dazu habe ich Anfang 2018 einen Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht: Kinder, die in eine Ehe geboren werden, egal, ob in eine heterosexuelle oder in eine homosexuelle – das kann in dem Fall auch nur eine lesbische Beziehung sein – sollen von vorneherein zwei rechtliche Elternteile haben. Das Abstammungsrecht muss angepasst werden; das ist immer noch nicht passiert. Dazu gibt es mittlerweile viel Aufmerksamkeit, was ich super finde. Es hat sehr lange gedauert, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass diese Kinder schlechter gestellt sind. Die zweite Mutter muss derzeit eine langwierige und belastende Stiefkindadoption durchführen, damit sie zweites rechtliches Elternteil wird. Das ist eine seltsame Konstruktion.

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Wie ist die Resonanz im Parlament dazu?

Es gibt bei der Union sehr viele Widerstände. Weil die an dieser heteronormativen Vorstellung festhalten. In dieser Frage sind sie sich nicht einig. Ganz ehrlich: Es geht doch um das Kindeswohl. Wenn die leibliche Mutter ein Kind bekommt und beispielsweise erkrankt und wenn die Erkrankung womöglich tödlich endet, dann hat dieses Kind keinen rechtlichen Elternteil mehr. Und die Co-Mutter hat keine rechtlichen Möglichkeiten. Das ist absurd und es ist erschreckend.

Die Argumentation liegt demnach auf der Hand?

Absolut. Die Ehe ist als Rechtsabsicherung konstruiert. So ist das auch mit dem Vater. Der muss nicht biologischer Vater sein. Wenn der Postbote fünf Kinder gezeugt hat, ist trotzdem der Ehemann fünfmal der rechtliche Vater. Es geht um die Absicherung der Kinder. Das wird hier nicht gewährleistet und das ist mein Vorwurf. Die CDU und vor allem die AfD natürlich stänkern dagegen. Ich finde, wer wirklich eine fortschrittliche Familienpolitik macht, muss die Kinder und die Lebensrealitäten im Blick haben.

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Wie ist es eigentlich atmosphärisch bei frauenpolitischen Debatten im Bundestag? Seit dem Einzug der AfD weht der Wind rauer.

Wir haben durch die AfD im Bundestag frauenpolitische Debatten, die sich verändert haben. Vorschläge für mehr Gleichberechtigung und Gleichstellung werden von der AfD regelmäßig diskreditiert. Die Themen und diejenigen, die über diese Themen reden, werden von der AfD an vielen Punkten sehr krass kritisiert. Mit Blick auf die Wortwahl und die Atmosphäre in diesen Debatten, sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen – die nicht-öffentlich sind, da geht es zum Teil noch höher her – werden die Auseinandersetzungen wöchentlich stärker und schlimmer. Die Themen werden verächtlich gemacht, die Thematik, dass wir immer noch eine strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen haben, wird von der AfD abgelehnt und in Frage gestellt. Ich nehme in den letzten drei Jahren eine zunehmende Aggressivität wahr. Das ist ein ganz großer Unterschied zu den Debatten früher. Wir haben das Thema Sexismus auch im parlamentarischen Raum. Sowohl wir als Abgeordnete des Bundestages, als auch Mitarbeiterinnen erleben nicht angenehme Situationen. Das ist sehr anders geworden. Atmosphärisch ist das für viele beängstigend.

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Eine abschließende Frage: Können Sie einen Satz zu Kristina Hänel sagen und zum aktuellen Stand? Die Ärztin kämpft für das Recht, Informationen zum Schwangerschaftsabbruch anbieten zu dürfen.

Kristina Hänel ist als mutige Ärztin, wie ich sie kenne, jetzt vor dem Oberlandesgericht erneut dafür verurteilt worden, dass sie Informationen auf ihrer Webseite zur Verfügung stellt. Dafür, dass sie sachlich über Fragen und Schritte im Falle einer ungewollten Schwangerschaft informiert. Ihr ist nach §219a erneut vom Gericht bestätigt worden, dass sie als Ärztin diese Informationen nicht mehr auf ihre Webseite schreiben darf. Sie und ich hingegen dürften diese Informationen überall verbreiten. Nur die behandelnden Fachärzt*innen nicht. Das ist doch skurril. Deswegen geht Kristina Hänel jetzt zum Verfassungsgericht nach Karlsruhe und versucht über diesen Weg, dort Recht zu bekommen. Der politische Teil ist jetzt, den §219a ersatzlos zu streichen. Das ist meine Forderung und die von uns Grünen für den Wahlkampf.