Neukirchen-Vluyn. Annegret Puttkammer soll Hans-Wilhelm Fricke-Hein an der Spitze des Erziehungsvereins ablösen. Sie erzählt, was die Menschen zu erwarten haben.

Im kommenden Jahr steht an der Spitze des Erziehungsvereins ein Wechsel an. Annegret Puttkammer wird Hans-Wilhelm Fricke-Hein ablösen. NRZ-Redakteurin Sonja Volkmann hat mit den beiden über die Situation, über den Wechsel und über Kirche und Seelsorge gesprochen.

Frau Puttkammer, was hat sie dazu bewogen, an den Niederrhein zu kommen?

Puttkammer: Das ist hier eine ganz spannende Aufgabe, in dieser großen Vielfalt, die der Neukirchener Erziehungsverein zu bieten hat: Von der Ausbildung über die großen diakonischen Arbeitsfelder bis zum Verlag. Das ist eine Bandbreite, die Sie erstmal finden müssen. Hier gibt es sie und ich möchte das gerne in der Bandbreite wahrnehmen und gestalten. Dazu kommt, dass ich mich früher am Niederrhein sehr wohlgefühlt habe. Und es ist jetzt, wenn ich hierher fahre, immer ein Stückchen nach Hause kommen.

Sie kommen vom Niederrhein?

Puttkammer: Ich habe in Kleve mein Vikariat verbracht. Aufgewachsen bin ich im südlichen Ruhrgebiet, in Velbert.

Herr Fricke-Hein, wie lange waren Sie Direktor?

Fricke-Hein: Seit 2003 bin ich hier in Neukirchen.

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Was hatte Sie damals dazu bewogen, die Stelle anzunehmen?

Fricke-Hein: Mich hatte die Aufgabe gereizt, diese ganze Breite von der Verlagsarbeit bis hin zur Diakonie. Auch, dass Bildung dazugehörte. Und dass man eine ganze Menge gestalten konnte.

Sie sind noch knapp ein Jahr dabei. Aber, wenn Sie jetzt zurückblicken: Was waren die wichtigsten Ereignisse?

Fricke-Hein: In der Jugendhilfe haben wir uns sehr konzentriert auf die intensiv-pädagogischen Bedarfe. Also auf die Jungen und Mädchen, die wirklich sehr schwierige Probleme haben. Wir haben sehr spezialisierte Mitarbeiter. Mich hat sehr geprägt, dass ich mit meiner Familie im Kinderdorf gewohnt und so den Alltag ein wenig miterlebt habe. Viele Mitarbeiter und Jugendliche haben mich auch so auf unkomplizierte Art und Weise kennen gelernt. Wir haben das Paul-Gerhardt-Werk neu aufbauen können. Da war vieles noch im Fluss.

Erklären Sie bitte kurz, was das ist.

Fricke-Hein: Das Paul-Gerhardt-Werk ist eine Jugendhilfeeinrichtung in Berlin und Brandenburg. Dieses Engagement nach der Wende auch wirtschaftlich zu stabilisieren, war eine ganz große Herausforderung. Dann haben wir die Behindertenhilfe ausgebaut, sowohl in Berlin als auch hier am Niederrhein. In der Zeit sind hier zwei neue Einrichtungen entstanden. Eine in Moers und eine im Kreis Heinsberg. Die Altenhilfe in Krefeld hat ein neues Zuhause im Bonhoeffer-Haus in Hüls bekommen. Das sind besondere Ereignisse gewesen. Aber ich kann es nicht genug betonen: Das ist natürlich die Leistung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Mitarbeiterschaft ist in der Zeit um etwa 1000 Leute gewachsen, von 1200 auf 2200.

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Was hat Sie am meisten geärgert?

Fricke-Hein: Darüber muss ich lange nachdenken, weil ich es immer als sehr positiv erlebt habe und es immer sehr schön fand, dass wir uns neuen Aufgaben widmen konnten, neue Bedarfe entdeckt haben und überlegt haben, wie wir helfen und was wir tun können. Natürlich ärgert man sich schon mal, wenn man Rückschläge erleidet.

Zum Beispiel?

Fricke-Hein: Im Bereich des Personals gibt es immer auch Krisen. Das gehört mit dazu, dass man moderieren muss. Das belastet einen schon mal eine Zeitlang. Die Trennung von der wissenschaftlichen Abteilung unseres Verlags war zwar notwendig, aber ist mir sehr schwer gefallen.

Wo sehen Sie womöglich Stillstand und Handlungsbedarf?

Fricke-Hein: Handlungsbedarf besteht auf jeden Fall bei der Fachkräftegewinnung und zwar zuallererst bei der Altenpflege. Da wissen wir, dass der Bedarf weiter steigen wird. Es ist wiederum wichtig: Immer wenn wir danach fragen, wie die neuen Mitarbeiter zu uns kommen, sagen zwei Drittel: durch Empfehlung von Mitarbeitern. Das bedeutet, dass wir eine große Mitarbeiterzufriedenheit haben. Trotzdem sehe ich großen Handlungsbedarf. Die Belastungen werden auch im diakonischen Bereich immer größer. Deshalb muss viel im Gesundheitsmanagement getan werden. Die psychische, seelische und körperliche Gesundheit unserer Mitarbeiter ist uns ein großes Anliegen.

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Wie erklären Sie sich die große Zufriedenheit?

Fricke-Hein: Bei Verabschiedungen oder Jubiläen wird häufig gesagt: Beim Erziehungsverein konnte ich mich entwickeln. Durch die Größe war es möglich zu überlegen: Wie kann ich mich weiterentwickeln, was kann ich neu ausprobieren, wie kann ich meine Begabungen einsetzen? Gabenmanagement ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Leitungsebene. Für mich ist immer wichtig gewesen, dass die Mitarbeiter in ihrem Entscheidungsbereich auch selbst verantwortlich sind.

Wenn man die wichtige Führungsaufgabe für 2000 Leute sieht. Was bedeutet das für Sie, Frau Puttkammer? Für wie viele Personen sind Sie jetzt verantwortlich?

Puttkammer: Ich bin jetzt als Pröpstin für einen größeren Bereich in der hessisch-nassauischen Kirche tätig mit ungefähr 200 Pfarrerinnen und Pfarrern. Und insgesamt 200.000 evangelischen Menschen in diesem Bereich. Ich möchte erstmal unterstreichen, was Herr Fricke-Hein sagte. Ich war am Dienstag hier und habe unterschiedliche Gremien kennengelernt und nahezu überall wurde mir als erstes gesagt, dass die Menschen gern hier arbeiten. Sie fühlen sich wohl und gut aufgehoben. Wir haben als Leitung eine Fürsorgepflicht. Zum einen für die Menschen, die uns anvertraut sind in den Einrichtungen und in der Beratung, aber auch für jene, die uns anvertraut sind, weil sie hier arbeiten. Ich mache bisher gute Erfahrungen damit, dass es ein Klima gibt, in dem man offen miteinander reden kann. Die Dinge müssen auf den Tisch, es soll nicht etwas unter der Oberfläche knirschen.

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Was sind Sie eigentlich für ein Typ?

Puttkammer: Ich lache sehr gern. Ein fröhlicher Mensch bin ich schon. Mein Mann sagt immer, die rheinische Frohnatur.

Mögen Sie Karneval?

Puttkammer: So ein bisschen, ja. Aber ich habe es mir fast abgewöhnt, weil es das in der Gegend, in der jetzt seit 20 Jahren lebe, nicht gibt. Da ist Rosenmontag noch nicht einmal ein arbeitsfreier Tag. Da gibt es immer Leute, die Termine machen, ich halte das für ungehörig (lacht). Und dann bemühe ich mich in der Art und Weise, wie ich mit Menschen umgehe, wirklich zu Klarheit und Offenheit. Zugleich bin ich ein sehr geistlicher Mensch. Das eigene Leben aus Gottesdienst und Gebet ist mir persönlich sehr wichtig. Ich hoffe, dass ich in dieser Kombination ein fröhlicher Christenmensch bin.

Was haben die Menschen zu erwarten, wenn Sie hier das Direktorat übernehmen?

Puttkammer: Zum einen können sie von mir erwarten, dass ich viel unterwegs sein werde in den Häusern und Einrichtungen. Das ist gerade für die Anfangszeit wichtig. Viele Menschen kennenzulernen, zu hören, wie es ihnen geht. Die ersten drei Monate sind ja oft so eine zauberhafte Zeit des Anfangs. Da ist man noch fern genug weg, um Dinge wahrzunehmen, die möglicherweise irritierend sind, oder auch wahrzunehmen, was ganz besonders ist. Ich möchte viele Menschen in ihrem Arbeitsumfeld besuchen. Ich habe auch für die kirchliche Arbeit immer die Überschrift gehabt: Wir müssen mehr raus. Damit man miteinander hört, was die Menschen brauchen.

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Wie erleben Sie zurzeit die schleichende Distanzierung von Kirche und von Seelsorge?

Puttkammer: Das spürt man sehr deutlich. Wenn Sie in einer Kirchengemeinde sind, spüren Sie das daran, dass in der Grundschule Kinder sind, die überhaupt nichts wissen von biblischen Geschichten. Da haben Sie der Familie zur Taufe eine Kinderbibel geschenkt und trotzdem hat man den Eindruck, dass die nie wirklich vorgelesen worden ist. Es stellt sich also die Frage, was wir tun müssen, um christliche Werte in die Gesellschaft hineinzubringen. Das fängt bei den ganz Kleinen an. Das spüren Sie, wenn Sie Traugespräche führen. Wie kann man den Gottesdienst gestalten, dass es dem Brautpaar entgegenkommt und auch in der christlichen Tradition beheimatet ist? Und in der Diakonie ganz besonders durch die Frage: Woran erkennt man, dass ein Erziehungsverein eine evangelische Einrichtung ist? Früher war es einfach, da arbeiteten hier evangelische Menschen, fertig. Das geht so heute nicht mehr. Wir haben uns in allen Einrichtungen schon sehr lange geöffnet für Menschen aus anderen christlichen Konfessionen. Die Frage ist: Wie lange ist Kirchenzugehörigkeit überhaupt noch ein Faktor, auf den man bauen kann? Oder müssen wir nicht vielmehr über die inhaltlichen Fragen sagen, was evangelisch ist.

Herr Fricke-Hein, woran erkannt man, dass der Erziehungsverein evangelisch ist?

Fricke-Hein: Im Wesentlichen an den Angeboten, die wir machen. Im Berufskolleg zum Beispiel daran, dass wir da ein geistliches Leben haben. Wir geben dort und an unseren Förderschulen evangelischen Religionsunterricht. An der diakonischen Kultur kann man es erkennen. Oder an unseren Seniorenangeboten. Die Kapelle spielt im Matthias-Jorissen-Haus eine große Rolle. Die geistliche Sterbebegleitung, wenn sie gewünscht ist. Und an den Mitarbeitern und deren Haltung.

Sie sind offen für Katholiken, für Muslime …

Fricke-Hein: Unsere Dienste waren schon immer für alle Menschen gedacht. In der Mitarbeiterschaft ist es jetzt viel offener und gemischter als zu früheren Zeiten. Das ist ein großer Wandel. Vielleicht ist es mit einer der größten Wandel und der größten Herausforderungen gewesen, dass wir mittlerweile viele Mitarbeiter haben, die gar keine christliche Konfession haben. Das war früher in der Diakonie nicht üblich. Es ist jetzt eine größere Herausforderung, das christliche Leitbild den Leuten deutlich zu machen. Man muss das als Mitarbeiter nicht übernehmen, aber die Grundlagen müssen respektiert werden. Wir haben gemerkt, dass die Beschäftigung von vielen Mitarbeitern, die keine Christen sind – im Osten ist das ganz häufig der Fall – auch denen gut tut, die zur Kirche gehören. Im Gespräch beschäftigt man sich viel intensiver mit Fragen des Glaubens. An den Einführungstagen machen wir den neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern deutlich, wie der Erziehungsverein entstanden ist, was die Gründerinnen und Gründer motiviert hat, nämlich die christliche Nächstenliebe, und was sich daraus entwickelt hat.

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Was finden Sie an Neukirchen-Vluyn schön, Frau Puttkammer?

Puttkammer: Die Bauweise. Die kleinen Häuser, breit verstreut. Und drumherum viele Fahrradwege.

Wenn Sie sich gegenseitig betrachten: Wo gibt es Gemeinsamkeiten, wo komplette Unterschiede?

Fricke-Hein: Meinungsverschiedenheiten gibt es nicht.

Puttkammer: Wir hatten bis jetzt wenig Gelegenheit, Meinungsverschiedenheiten zu haben.

Fricke-Hein: Ich glaube, es gibt sehr viele Gemeinsamkeiten. Wir kennen uns durch Verbandsaktivität seit Beginn meiner Arbeit hier.

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Puttkammer: Und ich bin mit dem Vorgänger über dieser Arbeit auch schon lange verbunden.

Fricke-Hein: Ich glaube, geistlich haben wir den gleichen Hintergrund. Ich komme aus einer reformiert-pietistischen Tradition. Aber die sehr weltoffen und verbindend ist. Damit bin ich hier nach meiner Wahrnehmung gut gefahren. Ich habe das Gefühl, dass es so weitergeht. Da ist ein Verständnis da.

Puttkammer: Ich glaube, dass uns das urchristliche Denken verbindet. Dass Glauben und Tun ganz eng zusammenhängen. Und dass das eine ohne das andere nicht wirklich möglich ist. Bisher hatten wir keine Meinungsverschiedenheiten, wir werden mal sehen, wir haben ja noch ein Jahr Zeit (beide lachen). Bisher war es ein sehr einvernehmliches Miteinander.

Fricke-Hein: Insofern habe ich mich über die Entscheidung des Aufsichtsrates sehr gefreut.