Kreis Wesel. Antibiotika sind Mangelware, auch viele andere Arzneien: Patienten fahren mitunter mehrere Apotheken an, um Fiebersaft für ihr Kind zu bekommen.

Auch knapp ein Jahr nach Ende der Coronapandemie bekommen Patienten oft nicht das benötigte Medikament oder es sind nur Ausweichprodukte lieferbar. Wen betrifft das? „Eigentlich fehlt alles. Fiebersäfte, Schmerzmittel, Blutdruck- oder Cholesterinsenker, Medikamente für Diabetiker und Antibiotika“, sagt Sven Krömer, Sprecher der Apothekenkammer Nordrhein. Für Dr. Reinhard Spicker, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Kreisstelle Wesel, ist das gerade in der Grippe- und Erkältungszeit mit einhergehender Entzündungswelle ein Problem. Normale Antibiotika und solche für Kinder fehlten, außerdem Betablocker. Obschon fehlende Antibiotika grundsätzlich lebensbedrohend seien könnten, gehe „aktuell keiner daran zugrunde“, sagt Spicker.

Wie auch die Krankenkasse IKK unterscheidet er zwischen Versorgungsengpass und Lieferengpass, heißt: Bei Lieferengpässen können Apotheken und Ärzte ihre Patienten mit anderen Arzneien versorgen, die gleiche Wirkstoffe haben. Ganz unproblematisch ist das nicht, „Ärzte verschreiben individuell passende Präparate, bei denen sich die Nebenwirkungen in Grenzen halten“, so Spicker. Ein Wechsel könne zu größeren Nebenwirkungen führen, Medikamente wie Betablocker könne man ohnehin nicht ständig wechseln.

In Apotheken ist Kreativität gefragt, um die Menschen zu versorgen

Apotheker helfen sich mit einem weiteren Kniff: Ein Antibiotikum, das mit 500 Milligramm und drei Tabletten verschrieben, aber nicht zu bekommen sei, könne durch 250 Milligramm und sechs Stück ersetzt werden, erläutert Lukas Heuking, Apothekensprecher für Dinslaken, Voerde, Hünxe und Oberhausen. Antibiotika kämen bei akuten Fällen zum Einsatz.

Ärzten und Apothekern beschert die Situation viel Arbeit, ständiges Nachfragen, ob Medikamente zu haben sind, gehören zum Alltag, Patienten müssen mitunter häufiger kommen und viele verstehen das nicht: „Die Zeiten, als wir im Garten Eden waren, sind vorbei“, sagt Spicker. Lieferengpässe lassen sich nicht an Regionen festmachen, „es ist nach unserer Einschätzung nicht ausgeschlossen, dass Produkte in einer anderen Apotheke verfügbar sein können, sowohl im gleichen Ort als auch im Nachbarkreis“, sagt die IKK.

Odyssee im Notdienst von Apotheke zu Apotheke

Für manche Patienten bedeutet das, vor allem im Notdienst, eine Odyssee: „Zu mir kommen Leute aus Kleve oder Oberhausen-Schmachtendorf, um den Fiebersaft für ihr Kind zu bekommen. Ich bin dann die fünfte Apotheke, die sie anfahren“, sagt Lukas Heuking, der in Dinslaken sitzt. Zwar sei die Lage bei den Fiebersäften besser als im vergangenen Jahr, gut sei sie aber noch nicht. Ohnehin: „Es gibt 500 bis 1000 Medikamente, die teilweise nicht zu bekommen sind“, sagt er, am schlimmsten sei das bei den Antibiotika, „das wird auch so bleiben“.

Neben Abhängigkeiten von einzelnen Herstellern im Ausland, die das System störanfällig machen, machen Apothekerkammer und KV Nordrhein die von den Kassen ausgehandelten Rabattverträge mit den Herstellern für die Mangellage verantwortlich – ein bekanntes, aber noch immer ungelöstes Problem. „Für die Hersteller ist es attraktiver, in die Niederlande, nach Belgien oder Frankreich zu liefern“, erläutert Krömer. Dort seien ihre Gewinne höher. Auch KV-Vorsitzender Spicker ist sich sicher: „Die Unternehmen werden das aussitzen, bis sie ihre Preise bekommen. Hier muss der Staat aktiv werden.“

Ursachen und Lösungsversuche

Ein besonderes Thema sind aktuell Medikamente zur Behandlung von Diabetes. Ozempic beispielsweise ist kaum lieferbar, ähnlich wie Trulicity. Die AOK Rheinland sieht die Ursache darin, dass Ozempic durch die sozialen Medien als Abnehmprodukt bekannt wurde, eine riskante Methode, die aber gefragt ist. Dadurch gehen Diabetespatienten häufig leer aus.

Beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte dokumentiert und bewertet Lieferengpässe von Humanarzneimitteln. Die Pharmaunternehmen melden voraussichtliche Probleme freiwillig. Um möglichen Versorgungsschwierigkeiten vorzubeugen, ist im vergangenen Juli das „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ in Kraft getreten. Es soll die Strukturen im Bereich der Festbeträge, Rabattverträge sowie der Medikamentenproduktion verändern. Ein besonderer Schwerpunkt soll auf der Verfügbarkeit von Kinderarzneimitteln liegen. Nach Einschätzung der IKK müsse man nun die Wirkung zunächst abwarten.

Im Notfall kann eine Tour nach Holland helfen, dort sind mehr Präparate verfügbar

Zumindest für Patienten im Kreis Wesel, die mobil sind, könnte sich ein Trip über die Grenze lohnen, um das gewünschte Medikament in den Niederlanden zu erhalten, auch auf Rezept. Jede Versicherungskarte der gesetzlichen Krankenversicherung hat auf der Rückseite die europäische Krankenkarte (EHIC). Sie ermöglicht es, mit dem deutschen Rezept im europäischen Ausland eine Arznei in der Apotheke zu bekommen, vorausgesetzt, es ist dort zugelassen. Mit der Karte wird der Gast behandelt wie die Bürgerinnen und Bürger des Landes. Allerdings müssen Patienten die Kosten häufig vorstrecken – es empfiehlt sich also, vorher mit der eigenen Krankenkasse zu sprechen, ob sie das Geld erstattet. Bei Antibiotika und Fiebersäften sei das Risiko überschaubar, so Apothekensprecher Lukas Heuking, andere Medikamente, wie das rar gewordene Ozempic für Diabetiker, hingegen seien deutlich teurer. Er rät, um Fehlfahrten zu vermeiden, vorab die Apotheke zu kontaktieren, in den meisten grenznahen spricht man Deutsch. „Manches haben sie in Holland aber auch nicht“, sagt er. Für ihn sei diese Lösung ohnehin eher eine Ausnahme.