Kreis Kleve. Medizin wie Paracetamol- oder Ibuprofen-Saft ist nicht nur in NRW aktuell Mangelware. Viele Menschen fahren deshalb über die Grenze. Lohnt das?

Deutsche, die nahe der Grenze wohnen, wissen es längst: Medikamente sind in den Niederlanden deutlich preiswerter. Und im Moment auch alle zu haben. Vom Engpass an Medizin speziell für kranke Kinder, der derzeit deutsche Apotheken in Nöte bringt, ist hier nichts zu spüren. Nicht nur in Apotheken, sondern auch in speziellen Abteilungen in den Supermärkten werden in den Niederlanden Ibuprofen, Hustensaft und Augentropfen verkauft. „Ganz viele davon werden hier in den Niederlanden hergestellt. Das geht schneller. Lieferungen aus China dauern ja drei bis vier Monate“ sagt Bert Hesseling, Geschäftsführer des Unternehmens „Medikamente die Grenze“, die in ‘s-Heerenberg oder jenseits von Nottuln und Gronau mehrere Läden mit Medizin versorgen.

1000 frei verkäufliche Arzneimittel liegen zu Discountpreisen bereit

In Deutschland knapp, hier aber reichlich vorhanden: Anita Uerstegen zeigt in ‘s-Herrenberg frei verkäufliche Medikamente.
In Deutschland knapp, hier aber reichlich vorhanden: Anita Uerstegen zeigt in ‘s-Herrenberg frei verkäufliche Medikamente. © FUNKE Foto Services | Erwin Pottgiesser

„In den Niederlanden gibt es immer eine Mischung von Medizin, auch von Herstellern aus europäischen Ländern“, vergleicht er und bestätigt: „In den letzten paar Wochen ist die Zahl der deutschen Kunden deutlich gestiegen. Vor allem auch wegen Fieberzäpfchen für Kinder“.

In Goch gleich hinter dem Grenzübergang Gaesdonck, nimmt der deutsche Kundenansturm bei „Haldie“ ebenfalls zu. Über 1000 frei verkäufliche Arzneimittel liegen hier zu Discountpreisen bereit – im Laden, der an 363 Tagen im Jahr geöffnet hat. Von Sonderangeboten werden dort Medikamente nicht ausgenommen. Neben Waschmitteln und Frittensoße sind zurzeit die „Hausmarke Paracetamol“ 50 Stück für 2,29 Euro und Nasenspray für 1,99 im Angebot zu haben.

Die meisten Apotheker grenznah sprechen Deutsch

Medizin – in den Niederlanden ab ins Einkaufskörbchen.
Medizin – in den Niederlanden ab ins Einkaufskörbchen. © FUNKE Foto Services | Erwin Pottgiesser

Aber auch die echten Apotheken in den grenznahen niederländischen Städten erleben einen „Run auf die Medikamente“ melden sie. „Hier ist im Moment ein Irrenhaus“, sagt Raymond Brunink, Mitinhaber der Apotheke A3 in Dinxperlo. Mütter mit hochfiebernden Kindern im Arm stünden schon vor Geschäftsöffnung ratsuchend an der Tür. Auch wenn es in den Niederlanden mal eine Lieferengpass für Paracetamol hebe, hätten die dortigen Apotheken doch genügend Alternativen. Die meisten niederländischen Apotheker grenznah sprechen Deutsch – das erleichtert die Beratung der Kunden.

Dass nur in Apotheken Medikamente fachgerecht gelagert würden, sagt der Klever Apotheker Heiko Buff. Er bestätigt den Mangel vor allem an gängigen Medikamenten für die kleinen Patienten auch in seiner Einhorn-Apotheke in Kleve. „Probleme haben wir hauptsächlich bei Fiebersaft und Antibiotika für Kinder.“

Fiebersaft selbst mischen – Apotheker besinnen sich, was sie im Studium gelernt haben

Aber man stehe „jetzt nicht vor einer großen Wand und könnten unsere Patienten nicht versorgen“, stellt er klar. Die Einhorn-Apotheke habe eine Vielzahl verschiedener Anbieter. „Um wirkstoffgleiche Medikamente zu bekommen, müssen wir dann ausweichen.“ Die Suche nach Alternativen koste allerdings Zeit“. Apotheker Buff stellt den fehlenden Paracetamol-Saft inzwischen selbst her. „Wir besinnen uns gerade auf das, was wir im Studium gelernt haben.“

Er rät dringend ab vom Vorschlag des Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt, übrig gebliebene oder sogar abgelaufene Medikamente wie auf einem Flohmarkt unter Nachbarn oder Freunden weiter zu geben. Die Qualität der Waren sei sehr unterschiedlich. Er wünscht, dass die Politik den ruinösen Preiskampf durch Festpreise und Krankenkassen-Lieferverträge beende.

Fachleute sehen diese Vergabepraxis als eine Ursache für die Lieferengpässe. Festpreise und Rabattverträge hätten dazu geführt, dass die Produktion in Billiglohnländer verlagert oder die Produktion durch andere Hersteller gedrosselt wurde. Unterbrochene Lieferketten und die Abschottung Chinas hätten zur aktuellen Mangellage geführt.

Der Flohmarkt-Vorschlag – ein nicht durchdachter Schnellschuss der Bundesärztekammer

Einen nicht durchdachten Schnellschuss nennt Ulrich Schlotmann, Sprecher der Apotheker im Kreis Kleve, den Flohmarkt-Vorschlag. „Es gibt ein Arzneimittelgesetz, das der Bundestag auf den Weg gebracht hat“, erklärt er. Das sei ein reines Schutzgesetz, damit Patienten abgesichert seien. „Dort ist alles ganz klar geregelt, und es ist unter Strafe gestellt, rezeptpflichtige Medikamente außerhalb von Apotheken zu handeln.“ Schlotmann warnt eindringlich vor dem Gebrauch abgelaufener Medizin und verweist auf aufwendige Prüfverfahren bei deren Herstellung.

Auch in seiner Apotheke in Goch fehlen derzeit immer wieder Medikamente. Insgesamt seien es rund 300 verschiedene Präparate, die nicht oder nur eingeschränkt zu bekommen seien, sagt er. „Dafür muss ich jeden Morgen früh dran sein, um überhaupt etwas ordern zu können.“

Schlotmann schlägt vor, dass beim gerade knappen Paracetamol die Kinderzubereitungen in Saftform oder auch Zäpfchen nur noch gegen Rezept ausgegeben werden, „damit die Leute es nicht bunkern“. Tabletten für Erwachsene dagegen seien ausreichend vorhanden. Für seinen nächsten Bereitschaftsdienst legt der Apotheker gerade einen kleinen Vorrat an, um fiebrige kleine Patienten abends oder in der Nacht nicht nach Hause schicken zu müssen.

Erst in der Apotheke nach verfügbarer Medizin fragen, dann Rezept ausstellen lassen

Der Arzt Paul Ingolf Hötger sieht in seiner Praxis in Kleve-Rindern seit Wochen „unglaublich viele“ grippale Infekte und echte Grippe. „Viele meiner Patienten erkranken noch dazu nicht nur einmal in der Saison.“ Seit gut zwei Monaten gebe es Probleme mit diversen Medikamenten. „Wir sind gezwungen, auf andere Präparate auszuweichen“, erklärt Allgemeinmediziner. Er rät seinen Patienten inzwischen, in der Apotheke erst nach verfügbaren Präparaten zu fragen, für die er dann das entsprechende Rezept ausstellt. Das bedeute zwar Mehraufwand, erspare aber seinen Patienten ein Hin und Her zwischen Apotheke und Arztpraxis.

Die Idee eines Flohmarktes findet er bedenklich, wenn es etwa um angebrochene Säfte, Nasensprays oder Augentropfen gehe. „Alle offenen Flüssigkeiten sind heikel.“ In einzelnen Blistern verpackte und richtig gelagerte Arznei wäre vermutlich unkritischer, überlegt er und weist darauf hin, dass viel zu viele Medikamente weggeworfen würden. Insgesamt findet Hötger es „ziemlich peinlich“, dass ein so entwickeltes Land wie Deutschland so viel im Ausland beziehe. „Man sieht ja, wohin die Abhängigkeit von China gerade geführt hat.“

Diese Hausmittel helfen

Beispielsweise diese Hausmittel helfen kranken Kindern

Bei Fieber: Babys feuchten Waschlappen um Handgelenke legen. Für ältere Kinder Wadenwickel oder Wassersocken/Essigsocken: Tücher in lauwarmem Wasser/Essigwasser tränken, um Waden wickeln oder nasse Socken anziehen, 10 bis 20 Minuten wirken lassen.

Viel trinken ist wichtig, ältere Kinder Lindenblütentee (regt Schwitzen an). Bei hohem Fieber über zwei Tage hinweg mit Erbrechen oder Hautausschlag den Arzt aufsuchen.

Bei Husten:Zwiebelsaft mit Kandiszucker trinken. Vor dem Schlafen Löffel Honig. Säckchen/Strumpf mit gewürfelten Zwiebeln ins Zimmer hängen. Salatöl auf angewärmtes Tuch träufeln, auf Brust legen, enges Hemd drüberziehen.