Kreis Wesel. In Sachen ÖPNV heute eher Ödland, hat der Kreis Wesel eine glanzvolle Eisenbahngeschichte. Ein Blick zurück auf diese Zeiten.
Einst war der Kreis Wesel von einem dichten Schienennetz durchzogen. Und die vorhandenen und genutzten Bahnstrecken ließen in einigen Köpfen die Vorstellung reifen, der Bahnverkehr könnte sich tatsächlich durchsetzen. Davon zeugen die zahlreichen stillgelegten Bahnstrecken.
Mancher wird sich wundern, wenn er liest, dass das Bahnhofsgebäude in Schermbeck einst das fünftgrößte auf der Strecke zwischen Hamburg und Venlo war: Dieser Umstand ist Bürgermeister Maassen zu verdanken, der sich ab 1867 im Vorfeld des Baus einer Eisenbahn-Linie zwischen Wesel und Haltern mit sehr optimistischen Fahrgast- und Güterpotenzialen für den Schermbecker Raum bei höheren Instanzen für einen Bahnhof einsetzte.
Große Erwartungen erfüllten sich nicht
Seine optimistischen Prognosen mit bis zu 8500 potenziellen Fahrgästen aus Schermbeck und Umgebung hatten wohl nachhaltigen Eindruck hinterlassen: Obwohl Schermbeck mit knapp 2000 Einwohnern ein kleiner Ort war, hatte es ab 1875 ein repräsentatives, zweigeschossiges Bahnhofsgebäude auf einer Grundfläche von 443 Quadratmetern. Der Schermbecker Bahnhof lag an der Trasse Wesel – Haltern, die ein Jahr zuvor mit weiteren Bahnhöfen und Haltepunkten in Obrighoven, Drevenack, Damm und Hervest-Dorsten als Teil der Strecke Venlo – Hamburg eröffnet worden war. Nur die Bahnhöfe in Bremen, Straelen, Osnabrück und Münster waren entlang dieser Strecke noch größer.
Die Prognosen des Bürgermeisters erwiesen sich jedoch als Schuss in den Ofen: Weder im Fern- noch im Nahverkehr hatte die Wesel-Halterner Strecke eine große Relevanz, da sie die wichtigen Industriezentren im Ruhrgebiet weiträumig umfuhr und für die Route keine ausreichende Nachfrage bestand. Auch die gelegentlichen Nutzungen durch Kaiser Wilhelm II. oder die Fernzüge von London nach Berlin sorgten nicht für Rentabilität.
Personenverkehr wurde im September 1962 eingestellt
In Hochzeiten fuhren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zu sieben Züge täglich; zusätzlich einzelne Fernzüge. Beide Weltkriege hatten jedoch Auswirkungen auf die Trasse Wesel-Haltern; unter anderem wurde eines der beiden Gleise als Reparationsleistung abgebaut. Erste Pläne für die Stilllegung der Strecke gab es ab Ende der 1940er Jahre. Zum 30. September 1962 wurde der planmäßige Personenverkehr eingestellt; einzig Güterzüge fuhren auf Teilen der Strecke noch. Aber auch dieser Verkehr wurde zwischen 1974 und 1988 schrittweise eingestellt. Heute erinnert ein originalgetreuer Modelleisenbahn-Nachbau des Bahnhofs im Heimatmuseum an die Schermbecker Eisenbahnzeiten.
Teile der Wesel-Halterner Strecke wurden seit der Jahrtausendwende aus dem Dornröschenschlaf geweckt und zwischen Wesel und Dorsten zu großen Teilen in eine Fahrradstrecke umgewandelt. Eine durchgängige Reaktivierung der Strecke, wie sie etwa als lose Idee im Weseler Kommunalwahlkampf 2020 kurzzeitig aufkam, ist nicht mehr möglich. An mehreren Stellen, wie in Höhe des ehemaligen Schermbecker Bahnhofs, ist die einstige Trasse inzwischen überbaut. Lediglich an den beiden Enden der Strecke zwischen Wesel und Haltern liegen noch ein paar Gleise, die vereinzelt vom örtlichen Güterverkehr und Museumsverkehr bedient werden.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges führte die Strecke von Wesel weiter über den Rhein nach Büderich, Bönnighardt, Issum, Geldern und Straelen nach Venlo. Danach verlor diese Trasse mit der Sprengung der Weseler Eisenbahnbrücke über den Rhein massiv an Bedeutung. Nachdem die gröbsten Kriegsschäden behoben waren, fuhr die Bahn bis 1960 wieder zwischen Geldern und Büderich-Ost. Auch hier nutzte der Güterverkehr Teile der Strecke danach weiterhin. Bis 2014 gab es eine Gleisanbindung von Menzelen-West nach Büderich zum Salzbergwerk in Borth.
Bodendenkmal aus der Römerzeit verhindert eine Reaktivierung
In Menzelen-West kreuzte die Venloer Bahn mit der Trasse zwischen Kleve und Duisburg-Rheinhausen, die unter anderem über Kalkar, Xanten, Rheinberg, Moers und Rumeln führt. Der Bahnhof in Menzelen-West, einst einer von wenigen Turmbahnhöfen in Nordrhein-Westfalen, ist heute nicht mehr in Betrieb. Heutzutage fahren die Züge von Duisburg nur noch bis Xanten; die Trasse von dort bis nach Kleve wurde Ende 1989/Anfang 1990 stillgelegt. Die Fahrgastzahlen waren in diesem Abschnitt so weit zurückgegangen, dass dringende Renovierungsarbeiten nicht mehr wirtschaftlich waren. Die Strecke wurde 2003 komplett zurückgebaut und in der Folge abschnittsweise in einen Fahrradweg umgebaut. Die frühere Strecke darf trotz Entwidmung nicht überbaut werden, um eine spätere Reaktivierung zu ermöglichen. Eine solche ist allerdings eher unwahrscheinlich, da Teile der Strecke die Römerstadt Colonia Ulpia Traiana schneiden und somit durch ein Bodendenkmal führen.
Das Schicksal der kompletten Stilllegung ereilte neben der Strecke Venlo - Wesel – Haltern auch weiteren Bahnstrecken im Kreis Wesel.
Eine davon ist die sogenannte Boxteler Bahn, die von Büderich über Xanten-West und Goch nach Boxtel in die Niederlande führte. Die Strecke ging ab 1873 in Betrieb und wurde für den internationalen Fernverkehr rege genutzt. Unter Eisenbahnfreunden ist die Strecke auch wegen ihrer markanten Lokomotiven bekannt, die aufgrund ihres Anstrichs „Blaue Brabanter“ genannt wurden. Nachdem die Strecke im Zweiten Weltkrieg an mehreren Stellen zerstört oder schwer beschädigt wurde, war die Stilllegung nur eine Frage der Zeit. Für den Personenverkehr geschah dies in zwei Etappen zwischen 1949 und 1963; auch der Güterverkehr hatte kurz darauf aufgehört. Heute werden die Orte auf deutscher Seite entlang der ehemaligen Boxteler Bahn mit der XBus-Linie X28 verbunden.
Die Walsumbahn soll künftig wieder rollen
Für die Strecke Wesel – Oberhausen gab es neben der sogenannten Hollandstrecke über Voerde, Dinslaken und Sterkrade mit der Walsumbahn einen weiteren Schienenweg. Sie wurde nach vierjähriger Bauzeit im Oktober 1912 eröffnet und sollte die bestehende Hollandstrecke entlasten. Wegen ihrer Nähe zum Rhein wurde sie zum Teil als Hochbahn errichtet, wofür unter anderem der Erdaushub des Rhein-Herne-Kanals genutzt wurde. Die Walsumbahn führt von Wesel unter anderem über Spellen, Möllen, Walsum, Duisburg-Hamborn und Oberhausen-Buschhausen zum Oberhausener Hauptbahnhof. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Strecke im März und April 1920 Schauplatz des Widerstands gegen die französische Besatzungsmacht, weswegen der Zugverkehr in dieser Zeit stark eingeschränkt war.
Eine 1930 errichtete Brücke über den Wesel-Datteln-Kanal wurde im März 1945 von deutschen Pionieren gesprengt, sodass der Abschnitt zwischen Wesel und Spellen seitdem nicht mehr bedient werden konnte. Der Wiederaufbau der Brücke kam nie über die Planungen hinaus und wurde in den 1960er Jahren schließlich zu den Akten gelegt.
Mit der Einstellung des Personenverkehrs zwischen Oberhausen und Walsum 1983 ist das Zugaufkommen auf der Strecke rapide zurückgegangen. Lediglich der Güterverkehr nutzt Teilstrecken bis heute etwa zur Belieferung des Kraftwerks Walsum und des Emmelsumer Hafens.
15-Minuten-Takt für Anfang der 2030er Jahre angedacht
Zwischen Spellen und Oberhausen liegen die Gleise weitgehend noch. Der Zustand der Bahnhofsanlagen würde einen planmäßigen Personenverkehr momentan nicht zulassen. Das soll sich allerdings ändern: Der VRR sieht in der stillgelegten Strecke großes Potenzial und beabsichtigt seit einiger Zeit, sie in Gänze zu reaktivieren. Eine Machbarkeitsstudie hat die grundsätzliche Wirtschaftlichkeit einer Reaktivierung bestätigt, sodass der VRR die nächsten Schritte nun in Zusammenarbeit mit den Anrainerkommunen planen kann. Dort werden die Reaktivierungspläne grundsätzlich mit Wohlwollen aufgenommen. Eine Wiederinbetriebnahme der Strecke mit einem annähernden 15-Minuten-Takt strebt der VRR derzeit für Anfang der 2030er Jahre an.