Am Niederrhein. Als die Industrialisierung den Niederrhein erreichte, wurden auch Kreis- und Kleinbahnen gebaut – die letzte rollte in den 1960er Jahren aus...
Die deutsche Eisenbahngeschichte begann bekanntermaßen mit der Inbetriebnahme der Strecke zwischen Nürnberg und Fürth 1835. Da der frühe Eisenbahnbau in weiten Teilen in privater Trägerschaft organisiert war, wurden zunächst die wirtschaftlich lukrativsten Verbindungen errichtet.
Erst in den Friedensjahren des Kaiserreiches von 1871 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs expandierte der Eisenbahnbau auch in der Fläche. Vorausgegangen war dem die Übernahme der privaten Strecken durch die öffentliche Hand im Jahre 1873, nachdem der sogenannte „Eisenbahnkönig“ Bethel Strousberg mit mehreren Unternehmen Konkurs anmelden musste. So bekam auch der preußische Staat wichtige Bahnlinien günstig in seine Hand.
Die Königlich Preußische Eisenbahnverwaltung (KPEV) avancierte in der Folgezeit zur größten Eisenbahngesellschaft der Welt und erwirtschaftete hohe Überschüsse in ihrem Hauptbahnnetz. Diese Gewinne setzte sie planmäßig zum Ausbau der Nebenstrecken und zur Erschließung der ländlichen Gebiete ein. So erhielt auch die Regierung der Rheinprovinz Zuschüsse, um den Bau von kreiseigenen Sekundär- und Kleinbahnen zu unterstützen.
Kostengünstige Kleinbahnen
Mit dieser Unterstützung verdichtete sich das Eisenbahnnetz am Niederrhein. Der war zwar in den 1840er und 1850er Jahren recht früh durch die Eisenbahn erreicht worden, die hier angelegten Strecken gehörten jedoch eher zu einem übergreifenden Fernstreckennetz. Die weitere Binnenerschließung der agrarisch geprägten Region lohnte sich anscheinend noch nicht. Erst als die Industrialisierung den Niederrhein erreichte, wurde der Eisenbahnbau in der Region forciert. Als nützliche Bauweise erwies sich die Anlage von Klein- und Kreisbahnen, die mit geringeren Kosten erbaut werden konnten. Die Streckenplanung verfolgte dabei zwei Ziele: sowohl der Transport von Gütern als auch die Nutzung für den Personenverkehr mussten hierbei möglich sein und damit die Wirtschaftlichkeit sicherstellen.
Auf die Schienen kam alles: Obst und Gemüse, Sand und Kies, Arbeiter*innen und Pilger*innen
Die bereits 1870 in Angriff genommene Krefeld-Kreis Kempener Eisenbahn diente so dem Warentransport der Textilindustrie, aber auch den in die Fabriken einpendelnden Arbeitern im Raum zwischen Krefeld und Mönchengladbach.
1883 wurde die Moers-Homberger Kleinbahn von der preußischen Staatsbahn erbaut, die ihre Aufgabe als Straßenbahn und Gütertransport erfüllte. Die Geldernsche Kreisbahn von 1901/02 wiederum diente sowohl dem Transport landwirtschaftlicher Produkte wie dem Straelener Gemüse als auch dem Abtransport von Kies und Sand. Gleichzeitig war sie für die Erreichung der Arbeitsstellen in Krefeld und für den lokalen Pilgerverkehr nach Kevelaer förderlich.
Die Moerser Kreisbahn von 1909/10 wurde ebenfalls für eine Doppelfunktion angelegt: Kohletransporte insbesondere zum Hafen in Orsoy wurden mit ihr ermöglicht und die Zubringerdienste der Arbeiter in die Zechen auf dem linken Rheinufer gewährleistet. Auch das rechte Rheinufer wurde durch mehrere Kleinbahnen erschlossen.
Die Stichbahn von Empel nach Rees 1897 diente dem Anschluss an die Hauptverbindung Oberhausen – Zevenaar. Im Kreis Rees wurde sogar eine rheinüberschreitende Verbindung von Kleve nach Emmerich 1911/12 geschaffen, die mithilfe einer Fähre genutzt werden konnte. Die bereits 1914 fertiggestellte Verbindung der Kleinbahn Wesel – Rees konnte aufgrund des Ersten Weltkriegs erst 1921 nach Emmerich fortgeführt werden.
Ähnlich gestaltete sich die Verbindung von Zutphen über Doetinchem und ´s-Heerenberg, die 1909 grenzüberschreitend zum Hafen nach Emmerich verlängert und ebenfalls zum Transport von Gütern und Arbeitern eingesetzt wurde. Ein besonderes Schicksal erlitt die 1878 als Fernverbindung zwischen England, Deutschland und Russland eröffnete Nordbrabant-Deutsche Eisenbahn (Boxteler Bahn). Diese populäre Privatbahn musste aufgrund der wirtschaftlichen Krisen nach dem Ersten Weltkrieg bereits 1922 Konkurs anmelden und ihre überregionalen Verbindungen einstellen. Am Niederrhein sank sie auf die Funktion einer Lokalbahn zwischen Goch und Wesel herab. Damit ereilte sie schon einige Jahrzehnte früher das Los der anderen Kleinbahnen am Niederrhein, die spätestens in den 1960er Jahren nicht mehr wirtschaftlich agieren konnten und ihren Betrieb einstellten.
Einige der ehemaligen Trassen sind heute noch vorhanden
Der damalige Schlussstrich muss jedoch vielleicht nicht endgültig sein. Die Resonanz auf die befristete Einführung des 9-Euro-Tickets zeigt, dass die Angebote im öffentlichen Nahverkehr durchaus angenommen werden, wenn die Preisgestaltung attraktiv ist. Einige der ehemaligen Trassen sind heute noch vorhanden und vielleicht führt ein weiterer Preisanstieg bei Benzin und Diesel ja zu einer Renaissance kleiner Schienenverbindungen in ländlichen Räumen.