Kreis Wesel. Laut einer Studie ist das Leben im Kreis Wesel bezahlbar, die Kosten liegen nahe dem Bundesdurchschnitt. Dennoch wächst die Armut.

Im Kreis Wesel liegen die Lebenshaltungskosten leicht unter dem Durchschnitt, sagt eine neue Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) mit dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Demnach besetzt der Kreis Platz 192 von 400 Städten und Kreisen und liegt um 3,1 Prozent unter dem Durchschnitt Deutschlands. In München, dem teuersten Pflaster der Republik, liegen die Lebenshaltungskosten um 80 Prozent über dem Schnitt. Alles in Ordnung also bei uns? Nein, sagt Horst Vöge, Vorsitzender des Sozialverbandes VdK am Niederrhein, die Armut steigt, erreicht auch die untere Mittelschicht und sie wird krasser. Ein neues Phänomen sei die Energiearmut im Winter.

Als Haupttreiber der Lebenshaltungskosten hat die Studie die Wohnkosten ausgemacht, die Kosten für Waren und Dienstleistungen unterscheiden sich demnach deutschlandweit nur geringfügig. Neben den Wohnkosten ist auch das verfügbare Einkommen ausschlaggebend dafür, wie gut oder schlecht es den Menschen geht, wie teuer ihr Leben ist. Dazu hat das Statistische Landesamt IT NRW zuletzt für 2021 Zahlen veröffentlicht: Demnach hatten Einwohner in NRW im Schnitt 23.812 Euro pro Jahr zur Verfügung, im Kreis Wesel waren es 23.990. Dabei gibt es große Unterschiede in den 13 Kommunen. Dieser Statistik nach leben die Spitzenverdiener in Hünxe mit 28.129 Euro pro Kopf und Jahr, Schlusslicht wäre Voerde mit 22.734 Euro.

Steigende Nebenkosten belasten Mieter stark

Solche statistischen Erhebungen können interessant sein, aber auch den Blick auf regionale Details versperren. Horst Vöge, Vorsitzender des VdK Niederrhein, nennt die Mietnebenkosten als großen Kostenfaktor. „Sie machen inzwischen knapp 30 Prozent der Wohnkosten aus“, sagt Vöge. Er rechnet für den Kreis Wesel vor, dass rund 20 Prozent der 15- bis 65-Jährigen armutsgefährdet seien. So wird eingeschätzt, wer weniger als 1200 Euro im Monat zur Verfügung hat.

Auch Menschen aus dem unteren Mittelstand stellen sich dieser Tage in die Schlangen vor den Tafeln, es gibt ganz neue Dimensionen der Armut
Horst Vöge, VdK-Niederrhein

In der Regel handele es sich um alleinerziehende Mütter, 46 Prozent von ihnen seien von Armut betroffen. „Auch Menschen aus dem unteren Mittelstand stellen sich dieser Tage in die Schlangen vor den Tafeln“, ist seine Erfahrung, „es gibt ganz neue Dimensionen der Armut.“ Im ländlichen Kreis Wesel seien zudem viele Menschen auf ihr Auto angewiesen, nennt er einen weiteren Kostenfaktor. Nicht jeder hat eine Arbeitsstelle um die Ecke und der öffentliche Nahverkehr lässt zu wünschen übrig.

Rentner geraten angesichts steigender Kosten an ihre Grenzen

Da wären noch die Rentner: „Die Durchschnittsrente einer Frau liegt bei 1250 Euro, die eines Mannes bei 1750 Euro“, sagt Vöge. Davon Wohnung, Nebenkosten, steigende Lebensmittel- und Energiepreise zu bestreiten, bringt viele Menschen an ihre Grenzen.

Täglich erlebten Mitarbeitende des VdK, wie sich die Armut ausbreitet und was sie mit dem Leben der Menschen macht. Da wird in der letzten Woche des Monats nur noch alle zwei Tage warm gegessen, Patienten strecken wegen der Zuzahlung ihre Medikamente gegen den Rat ihres Arztes.

Was kann helfen? Horst Vöge sieht die Kommunen in der Verantwortung, sie sind näher an ihren Bürgern. „NRW hat 150 Millionen für die Armutsbekämpfung an die Kommunen ausgezahlt. Das Ergebnis war dünn.“ Die Städte hätten Freikarten fürs Freibad spendiert, ein preiswertes ÖPNV-Ticket angeboten, Kindern Ferienfreizeiten ermöglicht. Einheitliche Konzepte, kritisiert Vöge, gebe es nicht und die Ungleichheit in der Gesellschaft gehöre inzwischen zur Realität. „Selbst wer seinen Bedarf noch decken kann, hat Angst davor, was noch kommt.“

Forderung an die Politik, das Thema ernst zu nehmen

Misstrauen gegen staatliche Behörden mache sich breit, die Diskussion um die fehlenden 60 Milliarden und die Schuldenbremse schüre die Situation noch. Politik müsse ein lebhaftes Interesse daran haben, sich um die Sorgen der Leute zu kümmern. „Es ist nachgewiesen, dass Leute, denen es schlecht geht, nicht zur Wahl gehen.“ Horst Vöge fordert von der Politik konkret, statt über die Entlastung der Gastronomie zu diskutieren, die Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte abzuschaffen.

Eigentlich zeigt die WI und BBSR-Studie, dass es den Menschen im Kreis Wesel ganz gut geht. Die alltägliche Wahrnehmung derjenigen, die sich um soziale Probleme kümmern, ist eine andere.