Am Niederrhein. In der Vorsorgestatistik stehen die Kreise Kleve und Wesel ganz unten. Das liegt nicht nur an mangelnder Bereitschaft der Patienten.

Für junge Mediziner ist eine Landarztpraxis offenbar unattraktiv – die Erkenntnis ist nicht neu, hat aber absehbar Folgen für die Versorgung. Schon jetzt bekommen Patienten sie zu spüren. Die Kassenärztliche Vereinigung, die Kreise Wesel und Kleve und die Kommunen versuchen, gegenzulenken. Doch der Engpass nähert sich und ist bereits angekommen. Viele aktive Haus- und Fachärzte steuern auf den Ruhestand zu. Wie wirkt sich das aktuell aus und wie soll es weitergehen für die Patienten im ländlichen Raum?

Langes Warten auf den MRT-Termin

Auf dem Papier sei die Versorgung noch in Ordnung, sagt Pascal Wieners, Leiter Regionales Gesundheitsmanagement der AOK Rheinland/Hamburg und zuständig für die Kreise Wesel und Kleve. „Faktisch würde ich aber sagen: Es geht so.“ Wie das für Patienten im Alltag aussieht, registriert die AOK durch ihren Terminservice, die Versicherung nimmt ihren Mitgliedern bei Problemen die Suche nach einem Facharzttermin ab. Und stellt fest: „Psychotherapeuten werden massiv nachgefragt, obwohl sich in dem Bereich im Kreis Wesel bereits viel getan hat. Auch in der Radiologie kann jemand monatelang auf seinen MRT-Termin warten und manchmal ist es auch beim Augenarzt schwierig.“ Bei der Fachärzteversorgung am Niederrhein gibt es Luft nach oben.

Sie stellten den AOK-Gesundheitsreport 2023 vor (von links): Mitverfasser Dr. Volquart Stoy, Regionaldirektor Manrico Preissel und Pascal Wieners, Leiter des Regionalen Gesundheitsmanagements.
Sie stellten den AOK-Gesundheitsreport 2023 vor (von links): Mitverfasser Dr. Volquart Stoy, Regionaldirektor Manrico Preissel und Pascal Wieners, Leiter des Regionalen Gesundheitsmanagements. © NRZ | Niklas Preuten

Hausärzte werden dringend gesucht

Und die Hausärzte? Aktuelle Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein zeigen, dass überall im Kreis Kleve Hausärzte fehlen, aber keine Unterversorgung droht. Die hausärztliche Bedarfsplanung wird auf der Ebene der sogenannten Mittelbereiche (MB) vorgenommen. Die am 14. Dezember 2023 aktualisierte Statistik weist für den MB Goch einen Versorgungsgrad von 95,7 Prozent und 1,5 offene Sitze (bis 100 Prozent) aus. Im MB Emmerich beträgt der Versorgungsgrad 91,6 Prozent (3,0 offene Sitze) und im MB Kleve sind es 87,4 Prozent (7,5 offene Sitze).

Im Kreis Wesel ist die Situation dagegen teilweise deutlich schlechter. Wieners nennt aktuell Xanten als Beispiel, der Versorgungswert liegt bei 75 Prozent und damit exakt auf der offiziellen Grenze zur Unterversorgung. Ist die unterschritten, wäre die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein dazu verpflichtet, gegenzusteuern. „Aber was sollen sie tun, wenn die jungen Mediziner nicht in die Kreise Wesel und Kleve kommen wollen?“, fragt Wieners.

„Landpartie“ lockte Ärzte in die Region

Einiges haben sie getan und er lobt das Engagement der KV und der Kreise. Es gab beispielsweise das Format „Landpartie“ im vergangenen Jahr, um die Ärztinnen und Ärzte für die Region zu erwärmen. Was ist dabei herausgekommen? Von den Teilnehmenden dieser Aktion, die wie eine Art „Speed-Dating“ ablief, sind inzwischen sieben niedergelassene oder angestellte Ärzte geworden. Zwei von ihnen haben ihre Zulassung im Kreis Wesel erhalten, eine weitere Person bekam eine Anstellung, teilt die KV auf Anfrage mit. Weitere vier Medizinerinnen und Mediziner gingen in die benachbarten Regionen. Ein gutes Ergebnis, aber längst nicht ausreichend für die absehbaren Probleme.

Ein Wechsel zu einer anderen Praxis aber funktioniert häufig nicht
Pascal Wieners - Leiter Regionales Gesundheitsmanagement der AOK

Aktuell, so die AOK, finde jeder, der neu in die Region zieht, noch einen Hausarzt. „Ein Wechsel zu einer anderen Praxis aber funktioniert häufig nicht“, sagt Pascal Wieners. Und da ist noch etwas: Der Gesundheitsreport der AOK aus dem vergangenen Jahr hatte gezeigt, dass die Patienten am Niederrhein Vorsorgemuffel sind, die Kreise Wesel und Kleve lagen ganz hinten beim Thema Prävention. Man habe sich gefragt, warum das so ist und Ursachen erforscht.

Ganz hinten bei der Vorsorge – das liegt nicht am Patienten

Ergebnis: Es sind nicht die Patienten, die Vorsorge ablehnen. Häufig sind es die Ärzte, die sie nicht mehr leisten können. „Die Hausärzte sagen uns, dass sie die Akutbehandlung ihrer Patienten hinbekommen“, sagt Wieners. Untersuchen, behandeln, Medikamente verschreiben, Arbeitsunfähigkeit bescheinigen. Für Vorsorge bleibe da häufig wenig Zeit. Das betrifft nicht nur Hausärzte, „Hautkrebsscreening beispielsweise können die Hautärzte in der Region kaum leisten.“

Seit 2018 bietet die KV Nordrhein für Regionen, in denen Lücken in der hausärztlichen Versorgung drohen, den sogenannten „Strukturfonds“ an. Laut KV ist der gesamte Kreis Kleve förderfähig. Wer diese Förderung erhält, bekommt bis zu 70.000 Euro für eine Neugründung oder Übernahme einer hausärztlichen Praxis sowie bis zu 50.000 Euro für die Anstellung von Hausärzten. Die Eröffnung einer Zweigpraxis kann bis zu 10.000 Euro Fördermittel erbringen. Wer dieses Geld annimmt, verpflichtet sich dazu, dort mindestens fünf Jahre zu arbeiten.

Nachwuchs will geregelte Arbeitszeiten und ein sicheres Einkommen

Was hält Jungmediziner davon ab, diese teils üppigen Anreize zu nehmen und ihre Zukunft im ländlichen Raum zu gründen? Die KV nennt das immense Angebot an alternativen Optionen in Wirtschaft, Forschung und Kliniken. Zudem zähle die Familiensituation, der Arbeitsplatz des Partners etwa, das Angebot an Kitas und Schulen oder der Wunsch nach Teilzeit, der für die Städte spreche.

Das klassische Landarztbild, nach dem der Doktor rund um die Uhr für seine Patientinnen und Patienten da ist, sehen viele junge Mediziner für sich nicht. „Es geht um die Work-Life-Balance, geregelte Arbeitszeiten und ein sicheres Einkommen“, sagt Pascal Wieners (AOK). Eine Praxis zu übernehmen, das bedeute, bereits mit hohen Schulden ins Berufsleben zu starten. Auch wolle der Nachwuchs medizinisch arbeiten, lehne den Verwaltungsaufwand, den eine eigene Praxis mit sich bringe, ab.

Lösungsansätze: Kommunen springen als Arbeitgeber ein

Und die Lösung? Ärzte kommen eher, wenn sie in einer Praxis eine Anstellung finden, denkt Wieners. Eine andere Möglichkeit sind Medizinische Versorgungszentren (MVZ): Ein großer Träger, ein Krankenhaus beispielsweise, gründet eine Praxis und stellt die Ärztinnen und Ärzte an. „Das gibt ihnen mehr Sicherheit und wird die Zukunft sein.“

Gabi Theissen, Dr. Christoph Starke, Moderator Joschka Heinemann, Prof. Dr. Runde, Pascal Wieners und Dr. Jürgen Berger-Roscher (von rechts) diskutierten Ende Oktober 2023 über das MVZ in Goch.
Gabi Theissen, Dr. Christoph Starke, Moderator Joschka Heinemann, Prof. Dr. Runde, Pascal Wieners und Dr. Jürgen Berger-Roscher (von rechts) diskutierten Ende Oktober 2023 über das MVZ in Goch. © NRZ | Niklas Preuten

Die Stadt Goch beschreitet diesen für Kommunen in NRW noch recht ungewöhnlichen Weg und bereitet aktuell die Eröffnung des MVZ im ehemaligen Tertiarinnenkloster zum 1. Oktober 2024 vor. Zunächst sollen sich dort zwei Kinderärztinnen ansiedeln, doch auch für weitere Haus- und Fachärzte wäre Platz.

„Mit kommunalen MVZ können Angebote geschaffen werden, die den Trends der vertragsärztlichen Versorgung (Anstellung anstelle von Selbstständigkeit, Teilzeittätigkeit) Rechnung tragen und damit die Sicherstellung der Versorgung gewährleisten“, stellt die Kassenärztliche Vereinigung fest. „Wir sehen darin aber auch eine gute Möglichkeit, dass die Kommunen attraktive Standorte für die Ansiedlungen junger Nachwuchsmediziner schafft. Über den Strukturfonds können auch hier Investitionskosten und Anstellungen gefördert werden.“