Essen. Essener Gedenkfeier zum 85. Jahrestag der Pogromnacht findet im Schatten des Hamas-Terrors viel Resonanz. OB-Appell: Bürger sollen Flagge zeigen.

Am 85. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ist in der Alten Synagoge in Essen manches wie immer und doch vieles ganz anders. „So viele Teilnehmer wie seit Jahren nicht“, begrüßt Oberbürgermeister Thomas Kufen am Abend in der Gedenkstätte, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 selber Ziel des Nazi-Terrors wurde. Mittlerweile ist die Alte Synagoge eine Begegnungs- und Gedenkstätte, und das Erinnern an die Schrecken der Pogromnacht und den Beginn der systematischen Judenverfolgung gehört zum alljährlichen Zeremoniell. Eines, das im Schatten des Hamas-Terrors nun eine ganz andere Bedeutung bekommt.

Denn wer will von Ritual sprechen an diesem 9. November 2023, an dem nichts mehr ist wie es einmal war für das Land Israel, das 1400 Opfer an die barbarischen Mördertaten der Hamas verloren hat und noch 240 Menschen in der Gewalt der brutalen Terroristen weiß: Frauen, Männer, Kinder, Alte. Geschunden, geschlagen, von Todesangst gepeinigt. Unaussprechliches Grauen.

„Wir brauchen ein entschiedenes Auftreten gegen Antisemitismus“

Der 7. Oktober 2023 sei eine „schreckliche Zeitenwende“ gewesen, sagt OB Thomas Kufen und spricht davon, dass im ritualisierten Gedenken der Vergangenheit womöglich auch Versäumnisse liegen. „Vielleicht haben wir den ein oder anderen verloren, den wir anders hätten ansprechen müssen, dafür reicht ein Tag nicht aus.“

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Dass der Antisemismus in Deutschland wieder um sich greife, spiegele sich nicht nur in Hass und Hetze, wie sie bei dem bundesweit Schlagzeilen machenden Islamisten-Aufmarsch in Essen sichtbar wurden. Man sehe schamerfüllt auf die Demonstration. „Wir haben feststellen müssen, dass der liberale Rechtsstaat für uns einige Zumutungen bereit hält“, sagt Kufen und appelliert an die gesamte Zivilgesellschaft, deutlich Flagge zu zeigen. Wie ein Teil der Menschen in Debatten wieder relativiere, beschönige, sich wegducke, empfinde er als „zutiefst beunruhigend“. „Das Wegschauen darf sich nicht wiederholen“, erklärt der OB: „Wir brauchen ein entschiedenes Auftreten.“

Musikalisches Erinnern: In dem Programm „Songs From Testimonies“ kommen Schoah-Überlebende zu Wort.
Musikalisches Erinnern: In dem Programm „Songs From Testimonies“ kommen Schoah-Überlebende zu Wort. © FUNKE Foto Services | Dirk A. Friedrich

Dass der Oberbürgermeister deutlich Farbe bekennt, wird von der Jüdischen Kultus-Gemeinde Essen dankbar aufgenommen. Bislang seien Ansprachen zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht „aus historischer Perspektive gehalten worden“, sagt der Vorsitzende Schalwa Chemsuraschwili. Der 7. Oktober 2023 aber habe alles verändert. Und auch die Palästinenser-Demo am vergangenen Freitag habe manche vermeintliche Sicherheit in Frage gestellt. „Das so etwas in Essen passieren könnte, war für mich unvorstellbar“, sagt Chemsuraschwili und verbindet seine Ansprache mit einer deutlichen Botschaft an die Demonstranten: „Die das Kalifat wollen, gehören nicht zu Deutschland.“

„Erinnerung und Gedenken sind nicht verhandelbar“

Für Diana Matut, die neue Leiterin der Alten Synagoge Essen, ist bei allen vorausgegangenen Gesprächen über Form und Format der Pogrom-Gedenkveranstaltung deshalb eines klar: Erinnerung und Gedenken an „eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ seien nicht verhandelbar – nicht zuletzt angesichts einer sich wandelnden Gesellschaft und sinkendem Wohlstand, die manche gesellschaftliche Übereinkunft womöglich neu zur Debatte stelle.

Am Ende der Gedenkfeier kommen schließlich die zu Wort, die das Grauen des Holocaust überstanden haben, letzte verbliebene Zeugen. „Songs From Testimonies“ heißt das Projekt der New Yorker Yale-Universität: Ein Archiv mit Liedern und Gedichten, vorgetragen von Schoah-Überlebenden. Sasha Lurje, Craig Judelman und sein Ensemble nehmen die in Videoaufnahmen festgehaltenen Stimmen an diesem Abend auf. Ihre Botschaften sollen nicht verstummen.

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