Essen. Nach der Anti-Israel-Demonstration in Essen mit 3000 Teilnehmern sagt ein Verfassungsrechtler, warum Menschen so etwas aushalten müssen.

Die Bilder der islamistischen Demo in Essen am Freitag (3.11.) waren für viele verstörend. Teilnehmer führten Schilder mit sich, diese ähnelten optisch den Fahnen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“, Hauptredner war ein in der Szene bekannter Islamist. Wie ist die Demonstration rechtlich zu bewerten? Ulf Buermeyer ist Berliner Jurist und Verfassungsrechtler. Im Interview bewertet er die Berichte und Bilder aus Essen und sagt: „Vielleicht ist es für eine Demokratie gut, zu sehen, dass es solche Leute gibt.“ Aus seiner Sicht habe die Polizei richtig gehandelt, indem sie die Demonstration nicht aufgelöst hat.

Jurist über Essener Demo: „Versammlungsgrund muss nicht eingehalten werden“

Die Polizei erklärte nach der Demo, dass der ursprünglich angezeigte Versammlungsgrund – „Pro-Palästina“ – wohl nur vorgeschoben worden war, um eine „islamreligiöse Versammlung auf Essens Straßen durchzuführen“. Muss man den Grund für eine Versammlung nicht einhalten?

Buermeyer: Grundsätzlich muss man den nicht streng einhalten. Wenn das Thema während einer Demonstration wechselt, ist das als solches kein Problem. Es wird erst dann zum Problem, wenn Inhalte auf der Demo rechtswidrig, also strafbar sind. Das juristische Argument ist, dass man ja auch jederzeit eine Spontan-Demo abhalten könnte. Das klingt jetzt wie eine offensichtliche Hintertür. In der Praxis gucken die Behörden allerdings nicht nur, welche Slogans angegeben werden, sondern sie schauen sich vor allem die Menschen an, die die Demo anmelden und die Initiativen, die dahinter stehen.

Ein Demo-Sprecher verlas über Lautsprecher die Regeln, die bei Nichtbeachtung zur Auflösung der Veranstaltung führen könnten, darunter: „Das Existenzrecht Israels darf nicht infrage gestellt werden.“ Ein Satz, den die Menge nach dem Vorlesen lautstark mit Buh-Rufen quittierte. Platziert war die eigentlich verbotene Äußerung indirekt also doch. Ist das rechtmäßig?

Das ist ein Grenzfall. Es gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Eingriffen in eine Demo. Wenn einmal gebuht wird, nehmen es die Teilnehmenden offenbar nicht so ernst mit dem Existenzrecht Israels. Man muss dann schauen, ob es die ganze Zeit weitergeht mit Sprechchören. Wegen einmaliger Buh-Rufe die Versammlung aufzulösen, wäre rechtlich kaum tragfähig.

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Aus Sicht der Essener sind da 3000 Leute aufgelaufen, die teilweise auch optisch den Islamischen Staat vertreten haben, etwa durch Fahnen in entsprechender Optik und die Geschlechtertrennung während des Aufmarsches. Viele Menschen macht das fassungslos.

Ich kann das sehr gut verstehen, dass man das als verstörend empfindet. Auf der anderen Seite ist das eigentliche Problem, dass es Menschen gibt, die so denken. Was wäre gewonnen, wenn man das versteckt? Die Gedanken verschwinden dann ja nicht. Und vielleicht ist es für eine Demokratie gut, das zu sehen. Das ist ja ein Warnsignal! Vielleicht müssen wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie man diese Menschen integriert, wie man sie mitnehmen und von den Werten unserer Verfassung überzeugen kann.

Also muss die Gesellschaft solche Demonstrationen aushalten?

Die Versammlungsfreiheit ist ein klassisches Grundrecht zum Schutz von Minderheiten, daher sind Demonstrationen häufig eine Provokation. Solange sie sich im Rahmen des Strafrechts bewegen, sind wir als Gesellschaft gut beraten, diese Anblicke auszuhalten und als Warnsignale dafür zu sehen, dass gesellschaftlich etwas schief läuft, dass Leute auf Abwegen unterwegs sind. Das eigentliche Problem ist nicht die Versammlung, sondern es sind die Ideologien, die es offensichtlich gibt. Und dann muss man sich gesellschaftlich überlegen, wie man damit umgeht. Das heißt allerdings nicht, dass diese Menschen Straftaten begehen dürfen.

Jurist sieht keinen Grund für Auflösung der Anti-Israel-Demo

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Wo liegt die Grenze bei der Durchführung einer Demonstration?

Die Grenze ist das Strafrecht, insbesondere der Straftatbestand der Volksverhetzung. Die fängt an, wenn man zu Hass gegen Minderheiten auffordert. Die öffentliche Sicherheit darf nicht gefährdet werden. Man muss auch sehen, dass durch solche Demos möglicherweise Gefährdungen für jüdische Einrichtungen entstehen können. Wenn Hass auf Juden propagiert werden würde, könnte so eine Demo nicht als Ventil wirken, etwa um Empörung über die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen in legaler Weise zum Ausdruck zu bringen, sondern das Gegenteil bewirken, also dazu führen, dass noch mehr Hass entsteht. Da muss man im Einzelfall sehr sensibel sein.

Also war es aus Ihrer Sicht richtig, die Demo nicht aufzulösen?

Ich sehe keine rechtliche Grundlage, die Demo aufzulösen. Die Idee des Rechtsstaats ist ja, dass die Polizei sich an Recht und Gesetz hält, und nach meiner Einschätzung haben sie das hier vorbildlich gemacht. Sie haben dem populistischen Impuls widerstanden, eine unliebsame Versammlung aufzulösen. Stattdessen haben sie genau hingeschaut und gesagt, wenn es Straftaten gibt, verfolgen wir die, aber die Demo können wir nicht auflösen, da müssen wir durch. Das ist ein durch und durch rechtsstaatliches Vorgehen.

Einige fordern Gesetzesänderungen, damit solche Demos in Zukunft nicht mehr möglich sind. Wäre das juristisch denkbar?

Sicherlich kann man das Versammlungsgesetz ändern, aber ehrlich gesagt gibt es da nur ganz kleine Spielräume, weil die Versammlungsfreiheit in ihrem Kern ja verfassungsrechtlich geschützt ist. Ich glaube, da würde das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe nicht viel mehr an Einschränkungen hinnehmen.

Jurist Ulf Buermeyer ist 47 Jahre alt, seit 2008 Richter am Landgericht Berlin. Seit 2016 ist er Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte, die mit strategischer Klageführung den Erhalt und den Ausbau der Grund- und Menschenrechte erreichen will. Gemeinsam mit Philip Banse produziert Buermeyer den politischen Podcast „Lage der Nation“ (lagedernation.org).

Ulf Buermeyer ist Berliner Jurist und Verfassungsrechtler. Aus seiner Sicht hat die Polizei richtig gehandelt, indem sie die Anti-Israel-Demo in Essen nicht aufgelöst hat.
Ulf Buermeyer ist Berliner Jurist und Verfassungsrechtler. Aus seiner Sicht hat die Polizei richtig gehandelt, indem sie die Anti-Israel-Demo in Essen nicht aufgelöst hat. © Markus Beckedahl