Essen. Juden werden beschimpft und bedroht, der Israel-Hass auf Schulhöfe getragen. Eine Familie fragt: Ist unser Sohn auf einer Schule in Essen sicher?
Er ist 39 Jahre alt, RWE-Fan, arbeitet im IT-Support für eine Versicherung, lebt mit Freundin und zweieinhalbjährigem Sohn in Essen-Horst. Und er ist jüdisch. Damit gehört David Guggenheim zu einer Minderheit in Deutschland, die in diesen Tagen maximale Aufmerksamkeit bekommen sollte. Doch so ist es nicht.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 zogen Tausende auf die Straße, zeigten spontane Solidarität mit dem überfallenen Land. Bis heute hängen in Fenstern ukrainische Flaggen, sind Profilbilder auf sozialen Medien in Blau-Gelb getaucht. Nach dem Angriff der radikalislamischen Hamas auf Israel, der Ermordung und Verschleppung von Zivilisten geschah nichts Vergleichbares.
Essenerin fragt: Muss man sich auskennen, um Mitgefühl zu zeigen?
„Mit einer israelischen Flagge im Profilbild wird man in Diskussionen hineingezogen, die man sich nicht wünscht“, sagt Guggenheim. Dabei sei die Attacke auf Israel am 7. Oktober glasklar ein Terrorakt. Umso weniger verstehe sie, dass es sogar Freunden oft schwerfalle, sich mitfühlend zu zeigen, sagt Guggenheims Lebensgefährtin Pia. „Selbst wenn sie wissen, dass wir jüdisch leben und Familie in Israel haben.“ Manche fragten erst gar nicht danach, andere sagten: „Ich kenne mich da nicht so aus.“ Müsse man sich auskennen, um ein Massaker zu verurteilen, oder die Entführung von Kindern? „Jeder könnte doch sagen: Das tut mir leid“, findet die 37-Jährige.
In einem Artikel über „modernen Israel-Hass“ hierzulande konstatierte die FAZ dieser Tage: „Von Ausnahmen abgesehen, fehlt es nicht nur an Unterstützung, sondern in irritierendem Maße an Mitgefühl.“ Guggenheim befremdet das: „Jeder kann für die Palästinenser demonstrieren und die israelische Regierung kritisieren, aber muss man das zwei Tage nach einem Anschlag auf das Land machen?“
Deutsche Juden werden für die Politik Israels beschimpft
Deutsche Politiker betonten stets, an der Seite Israels zu stehen, doch wo bleibe das Zeichen aus der Zivilgesellschaft? Am Mittwoch (25. 10.) verloren sich zwei Dutzend Menschen mit Israel-Fahnen auf dem Essener Hirschlandplatz. Vier Tage zuvor waren an selber Stelle über zehnmal so viele dem Aufruf deutsch-arabischer Mediziner-Vereine gefolgt, um für die Zivilisten im Gazastreifen zu demonstrieren. Israel wurde dort als „Aggressor“ bezeichnet.
Guggenheim ist Deutscher, kein Israeli. Doch die deutschen Juden sind immer wieder Adressaten heftiger Israelkritik. Wenn jetzt auf Demos Hassparolen skandiert werden, wenn Häuser, in denen Juden leben, mit Davidsternen markiert werden, erwacht bei ihnen eine Angst, die sie latent immer begleitet.
Das Kopftuch gehört zum Essener Stadtbild – die Kippa nicht
„Ich fühle mich hier nicht unsicher – aber ich zeige mich auch nicht als Jude“, sagt der 39-Jährige. In Essen, wo Frauen mit Kopftuch zum Stadtbild gehören, ist die Kippa nicht annähernd so selbstverständlich: „Wenn ich mit meinem Sohn unterwegs bin, möchte ich ihm den Stress ersparen, der damit verbunden sein kann.“ Auch ohne Kippa versteckt Guggenheim sein Judentum nicht völlig: Sein Profilbild zeigt einen Davidstern.
„Ich wünsche mir, dass mein Sohn einmal frei entscheiden kann, wie offen er seinen Glauben zeigt.“ Das ist auch Pia wichtig, die selbst ohne Glauben aufgewachsen ist. Nun begeht sie mit ihrer Familie jüdische Feiertage, singt Hebräisch. In der Kita haben sie das jüdische Lichterfest Chanukka vorgestellt.
In der Schule hörte er Schmähwörter für Juden
Dort ist ihnen nur kindliche Neugier begegnet, doch sie fürchten, dass sich das in der Schulzeit ändern könnte. Guggenheim hat umzugsbedingt Schulen in Heidelberg, Pforzheim, Düsseldorf und Mannheim besucht. Religionsunterricht hatte er in der jüdischen Gemeinde, an Reli-Stunden in der Schule nahm er nie teil: Das warf Fragen auf. Später hörte er Schmähwörter für Juden, meist mit dem Nachsatz „Das darf man nicht mehr sagen.“ So wurde ihm klar: „Ich bin anders.“
Er war etwa elf, als ein Mitschüler sagte: „Wir schmeißen alle Juden aus dem Fenster, aber Du darfst bleiben.“ Als er das seiner Schwester erzählte, ging die zur Mutter und die zum Schulleiter, der die Eltern des Jungen einbestellte. Die Ansage zeigte Wirkung. Allerdings war der Junge danach gegenüber David Guggenheim verunsichert.
Der Israel-Hass wird auf die Schulhöfe getragen
Bis heute gebe es Leute, die meinen, man müsse ihn „besonders vorsichtig“ behandeln. Aber ist man zu sensibel, wenn man nicht will, dass die eigene Religionszugehörigkeit als Schimpfwort gebraucht wird? Die Freundin seines Vaters sei Lehrerin und höre auf dem Schulhof „Jude“ als Beschimpfung. Wenn sie eingreift, sagen die Schüler: „Es gibt doch keine Juden mehr.“
Sein Sohn wäre der Gegenbeweis. Er trägt den hebräischen Namen Ezra. Irgendwann würde er mit Fragen konfrontiert; und vielleicht nicht nur das: In diesen Tagen mehren sich Berichte, dass der Hass auf Israel auch in die Schulen getragen wird. Sind jüdische Schüler dort noch sicher? Der „Spiegel“ berichtet in seiner aktuellen Ausgabe von einer Mutter in Berlin, „die sich jeden Tag fünfmal überlegen muss, ob sie ihre Kinder zur Schule schickt“.
Jüdischer Alltag unter Polizeischutz
David Guggenheim und seine Lebensgefährtin denken nun darüber nach, ob Ezra später lieber auf die jüdische Schule in Düsseldorf gehen sollte. Die Kinder werden zu Hause abgeholt, Ezra könnte vom Schabbat erzählen oder über jüdische Feste: Er wäre dort sicher – und nicht „anders“.
Ob es für seinen Sohn eine solche Normalität auch an einer Essener Schule gäbe, ist fraglich. „Ich habe die Sorge, dass da keine Akzeptanz ist – und die will ich. Toleranz reicht mir nicht.“ Mitleid gehe gar nicht: Er sei nicht bedauernswert, fühle sich in Essen wohl, aber sein Leben sei eingeschränkt. Pia nickt: „Es ist doch irre, dass man Securitys für einen Gottesdienst braucht oder Polizei auf einer Beerdigung.“
Der Großvater überlebte den Holocaust und setzte sich später für Verständigung ein
Sein Großvater habe den Holocaust überlebt und sei nach Essen zurückgekehrt, „weil er ein Ruhrpottkind war“. Er habe viel für die Verständigung getan, gemahnt – und gesagt: „Hey, ich lebe hier.“ Sein Enkel hatte gehofft, dass er nicht mehr mahnen und warnen müsse. Er formuliert sein Lebensgefühl so: „Ich bin nicht der Jude David, sondern David, der jüdisch ist.“
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