Emmerich. Familie Boß aus Emmerich hat eine Familie aus Kiew bei sich aufgenommen. Sechs Tage dauerte deren Flucht aus der Ukraine nach Emmerich.

Ludmila hat Tränen in den Augen. Die junge Frau aus Kiew wollte eigentlich erzählen, wie sie mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Emmerich geflüchtet ist. Dann erreichte sie die Nachricht, dass ihr Schwager, der noch in der Ukraine war, im Krieg ums Leben gekommen ist. „Mein Verstand funktioniert gerade nicht mehr“, sagt sie auf Englisch. Mit entschuldigenden Gesten verlässt Ludmila den Garten der Familie Boß, geht zurück in die Ferienwohnung der Familie, wo sie gemeinsam mit ihrem Mann Anatolii und den Kindern Sophie (8), Mikhailo (5) und dem anderthalbjährigen Timofii untergekommen ist. Schweigen. Plötzlich ist der Krieg ganz nah.

Waltraud Boß, die mit Tochter Anne und Ehemann Jürgen die ukrainische Familie aufgenommen hat, übernimmt es, vom Schicksal der Familie zu berichten. Vor gut zwei Wochen entschloss sich die Familie, vor dem Krieg aus der Ukraine zu fliehen. „Sie waren im Auto sechs Tage lang hierher unterwegs“, erzählt Waltraud Boß. Sechs Tage für eine Strecke von rund 1900 Kilometern. Eine Strecke, die manch Italienurlauber am Stück oder mit einer Übernachtung absolviert. Sechs Tage mit Übernachtungen im Minivan bei eisigen Temperaturen. „Das Schwierigste war der Weg durch die Ukraine und über die Grenze nach Polen. Danach war es einfach“, berichtet Waltraud Boß.

Alles in der Ukraine zurückgelassen – Besitz, Freunde und Familie

Lesen Sie auch diese Nachrichten aus Emmerich und Umgebung

Emmerich: So ist es um die Emmericher Finanzen bestelltEmmerich: Lehrermangel im Kreis KleveRees: Ein Wimmelbuch für ReesAnholt: Die DRK-Kita in Anholt wird erweitertLesen Sie hier alle Nachrichten aus Emmerich, Rees und Isselburg

Nach Emmerich ist die Familie gekommen, weil Anatoliis Mutter schon seit einigen Jahren mit ihrem Mann hier lebt. „Allerdings ist die Wohnung der Mutter zu klein, um die Familie aufzunehmen“, erklärt Waltraud Boß. Die Familie hatte sich dazu entschieden, die Ferienwohnung im eigenen Wohnhaus für Menschen aus der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Nur 90 Minuten, nachdem sie das bei der Stadt gemeldet hatte, klingelte schon das Telefon mit der Ankündigung, dass eine Familie da wäre, die in die Wohnung einziehen könnte.

Seit gut einer Woche lebt die Familie aus der Ukraine nun in der Ferienwohnung. In der Ukraine haben sie nicht nur ihr Hab und Gut zurückgelassen, sondern auch ihre Freunde und Teile ihrer Familie. Nicht nur den Bruder von Anatolii, sondern auch Ludmilas Vater. „Sie macht sich große Sorgen um ihn“, erzählt Waltraud Boß. „Er hatte wohl einen Schlaganfall und leidet unter den Nachwirkungen und ist herzkrank.“ Und er ist derzeit noch in Mariupol. Die Stadt wird heftig umkämpft. „Dort gibt es zur Zeit keinen Strom, kein Wasser“, sagt Waltraud Boß.

Und es fehlt noch ein Mitglied der Familie: Ludmilas 15-jähriger Sohn war zu seinem Vater gereist. Er sollte zurückkommen, als in der Ukraine der Krieg ausbrach. „Er ist jetzt mit seinem Vater in der Türkei und macht da noch Urlaub“, erzählt Waltraud Boß. Die Familie hat es hinbekommen, dass auch er in einigen Wochen nach Emmerich kommen soll.

Große Hilfsbereitschaft der Menschen in Emmerich

Bei der Familie Boß angekommen, war eine der ersten Fragen, wie viel die Ferienwohnung wohl kosten würde. Die Antwort: nichts. „Sie waren unglaublich dankbar und haben gefragt, warum wir das für sie tun“, erzählt Waltraud Boß. „Ich würde mir wünschen, dass das in dieser Situation auch jemand für mich macht“, beantwortet Anne Boß die Frage. Gemeinsam mit ihrer Mutter engagiert die 36-Jährige sich schon seit einigen Jahren bei der Hilfe für Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Es waren auch schon Menschen aus verschiedenen Ländern in der Ferienwohnung der Familie zu Gast. „Man verliert irgendwann die Hemmung, sich mit schlechtem Englisch und mit Händen und Füßen zu verständigen“, sagt Waltraud Boß.

Im Garten von Jürgen, Waltraud und Anne Boß (v.l.n.r.) stehen derzeit viele gespendete Fahrräder zur Reparatur bereit. Die beiden Frauen engagieren sich seit Jahren in der Hilfe für Geflüchtete.
Im Garten von Jürgen, Waltraud und Anne Boß (v.l.n.r.) stehen derzeit viele gespendete Fahrräder zur Reparatur bereit. Die beiden Frauen engagieren sich seit Jahren in der Hilfe für Geflüchtete. © FUNKE Foto Services | Konrad Flintrop

Um Menschen aus der Ukraine zu helfen, wurden in Emmerich viele Netzwerke reaktiviert. Ehrenamtliche Helfer tauschen sich via Facebook und WhatsApp aus. Die Hilfsbereitschaft ist groß. „Ich hatte einen Aufruf gestartet, um Fahrräder für die Familie zu bekommen“, erzählt Waltraud Boß. Wenig später hatten sich schon zig Menschen gemeldet, die ein Fahrrad spenden wollten. Ein gutes Dutzend steht gerade im Garten der Familie und wird von Jürgen Boß und Anatolii repariert. „Wir wollen keine Fahrradgeschäft aufmachen“, scherzt Waltraud Boß. Die Räder sollen an andere ukrainische Familien gehen. „Ein Nachbar hat uns direkt eine Garage zur Verfügung gestellt, wo wir die Räder erstmal unterstellen können.“

Bisher sind wohl gut 50 Menschen aus der Ukraine nach Emmerich gekommen. Das war zumindest der Stand von Waltraud Boß am Ende der vergangenen Woche. Es könnten noch mehr werden, so lange der Krieg in der Ukraine noch andauert. In Emmerich werden sie auf jeden Fall auf hilfsbereite Menschen treffen. Vielleicht ein kleiner Trost für jene, die ihre Heimat verlassen mussten. Es bleibt die Hoffnung, irgendwann dorthin zurückkehren zu können.