Duisburg. Die Jedi-Klasse ist einzigartig in NRW: Darin lernen Kinder, die es in keiner anderen Schule aushalten. Was die Duisburger Schule anders macht.
Hier machen sie das Unmögliche möglich: Kinder, die als unbeschulbar gelten, die es anderswo höchstens stundenweise in einer Klasse aushalten, bleiben hier ganze Tage, wochenlang, ein ganzes Schuljahr – und gern auch noch länger.
Die Jedi-Klasse an der Alfred-Adler-Förderschule in Duisburg ist ein NRW-weit einzigartiges Projekt. Elf Kinder zwischen sechs und zehn Jahren lernen hier, Vertrauen zu fassen in die Menschen, die sich um sie kümmern. Und am Ende, vielleicht, auch in das Schulsystem.
Von normaler Intelligenz bis geistiger Behinderung reicht die Palette, von (noch) nicht diagnostizierten Einschränkungen bis Autismus, ADHS, fetalem Alkoholsyndrom und diversen seelischen Handicaps – das ganze Förderschulspektrum ist in dieser Klasse, viele sind zudem traumatisiert, bindungsgestört. Schulkinder, die keinen Stift halten können, sind hier das geringste Problem.
Kinder mit seelischen Handicaps brauchen in der Schule viel Nähe
Gemeinsam geben Jugendamt, Caritas und das Schulteam diesen Kindern eine neue Chance. Dabei setzen sie vor allem auf Beziehung. Sonderpädagoge Christoph Pelzer scheint dafür wie gemacht. Mit ruhiger Stimme bringt er Ordnung in die Gruppe. An seine kräftige Statur schmiegt sich immer wieder ein Kind. Nähe ist hier ein Riesenthema. Ein Kind kuschelt sich wie ein Kätzchen auf den Schoß der sozialpädagogischen Fachkraft, eines hält die Hand einer Praktikantin.
„Ohne Beziehungsarbeit wäre das nicht möglich“, sagt Pelzer. Da die Kinder Bindungen immer wieder abbrechen, sei das große Team wichtig. Es ist immer ein weiterer Erwachsener da, um sich zu messen, zu streiten, zu binden – und um zu wachsen.
Die Morgenrunde ist ganz eng geleitet, Pelzer geht bei jeder Störung sofort freundlich, aber bestimmt dazwischen. Hier werden Konflikte ausgesprochen, Regeln geklärt. Und ganz nebenbei lernt die Rasselbande auch, wie Raupen zu Distelfaltern werden. Die durchsichtige Box wird vorsichtig herumgereicht.
Gemeinsames Frühstück, Platz zum Abreagieren
Für die elf Kinder gibt es einen eigenen Trakt. Im Klassenraum können durch Trennwände einzelne Abteile für konzentrierte Ruhe geschaffen werden. Auf den Tischen kleben individuelle Verabredungen: „Ich arbeite, ohne zu meckern.“ „Ich diskutiere nicht.“ „Ich trödle nicht.“ Leise sein, entspannt bleiben, ruhig sitzen, konzentrieren, mit der Aufgabe beginnen: So viele Selbstverständlichkeiten, die hier erst eingeübt werden.
Das ist manchen schon nach zehn Minuten zu viel, deshalb ist gegenüber ein Bewegungsraum zum Abreagieren und Entspannen. Ein weiterer Raum ist für das gemeinsame Frühstück, aber auch zum Vorlesen, Kreativsein, Spielen und für sozialpädagogische Angebote. Auch der Flur wird genutzt. Heute zum Beispiel, weil ein Kind ein Hund sein will und auf allen vieren krabbelt, bellt. Hier darf er sich ausleben. Hier lernt er aber auch, dass er erst wieder zurück in die Klasse kann, wenn er der achtjährige Junge ist.
Enger Betreuungsschlüssel für elf Kinder
Die Pädagogen wollen vor allem Teilhabe ermöglichen. „Eins der Kinder hat über Jahre zu Hause gesessen, das ist doch gemein“, erklärt Schulleiter Torsten Marienfeld. Alle Versuche, das Kind im Bildungssystem zu integrieren, waren gescheitert. Mit ihrem familiären Konzept, dem engen Betreuungsschlüssel – vier bis fünf Mitarbeiter auf elf Kinder – wollen sie jetzt einen Unterschied machen.
Dass so ein Kind Zeit braucht, um sich an den Umgang mit anderen Kindern zu gewöhnen, dass er erst mal über die Stränge schlägt, aneckt, ist verständlich. Hauptsache, der Junge kommt raus, „das ist schon ein Gewinn“.
Der hohe Personaleinsatz zahlt sich aus, ist sich Marienfeld sicher, da nehme er jede Wette an: „Das hier ist langfristig ökonomischer als Kinder im Regelsystem stundenweise zu beschulen, Abbrüche zu generieren und so Absentismus zu verfestigen.“
Bei Kindern und Jugendlichen ab Klasse fünf seien oft nur noch teure Maßnahmen außerhalb Duisburgs möglich. „Dann doch lieber präventiv arbeiten“, findet Marienfeld. Und gleich groß denken, an einer Ausweitung des Projekts für Kinder aus weiterführenden Schulen arbeiten. Die Arbeit sei zwar „mega-anstrengend“, ergänzt Pelzer, „aber es ist auch das Sinnstiftendste, was ich seit langem mache.“ Das soll jetzt auch wissenschaftlich belegt werden, eine Universität wird das Projekt evaluieren.
Eltern werden durch die verlässliche Betreuung entlastet
Auch für die Eltern sei es eine enorme Entlastung, wenn die Betreuung in der Gruppe gelingt. „Die waren vorher ja im Dauerstress, immer auf dem Sprung, ihr Kind aus der Schule abzuholen oder es ganz zu Hause betreuen zu müssen. Sie wurden ständig für das Verhalten ihrer Kinder kritisiert“, beschreibt Sozialarbeitern Janine Liebsch. Schulen riefen nur an, um neue Katastrophen zu verkünden. Dass die Pädagogen jetzt auch anrufen, um positive Rückmeldungen zu geben, Entwicklungsfortschritte zu beschreiben, sich auszutauschen und um auch die Eltern zu unterstützen, sei für viele eine völlig neue Erfahrung, sagt sie.
Die Klasse ermögliche auch Eltern eine Teilhabe, etwa am Arbeitsmarkt. Konflikte und Ausraster löst das Team selbst, „zur Not zerlegen die Kinder einen Raum, dann steht kein Tisch und Stuhl mehr, aber dann beruhigen sie sich auch wieder“, beschreibt Pelzer und wirbt um Verständnis: „Das Schulsystem erwartet von Kindern in akuten psychischen Ausnahmesituationen Leistung, von Erwachsenen würde das niemand erwarten.“
Immerhin erwartet niemand von einem besonders herausfordernden Jungen, dass er mit dem Bus zur Schule fährt. Ein Taxi bringt ihn täglich, da ist es nicht ganz so schlimm, wenn er „nur“ mit dem Mittelfinger am Fenster Passanten provoziert.
Die Atmosphäre in der Jedi-Klasse ist familiär
Ein Mitschüler sagt, dass er inzwischen gern zur Schule geht. Er habe Freunde gefunden und das Lernen mache auch mehr Spaß. „Früher kam ich jeden Tag mit Ärger nach Hause, alle haben mich provoziert“, sagt der Neunjährige. Manchmal habe ihn das so sauer gemacht, dass er weggelaufen sei. Auf Schlappen quer durch Duisburg. Dann beißt er in sein Käsebrot, das verlegene Grinsen kaschierend.
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Sein Sitznachbar sucht derweil nach „der Wiese, die man essen kann“. Lukas Müller weiß sofort, was er meint. Der Sozialarbeiter frühstückt mit, zeigt dem Jungen das Schnittlauchtöpfchen auf der Fensterbank. Die Atmosphäre ist familiär, auch wenn immer mal einer aufspringt, eine verrückte Idee hat und wenig später vom Dach der Lesehütte gepflückt werden muss.
Im vergangenen Jahr sei so ein Frühstück nicht möglich gewesen. „Sie haben geschrien, sich auf dem Boden gewälzt“, sagt Müller, „inzwischen haben sie viel gelernt, hier geht es für sie in die richtige Richtung, hier können sie zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft werden“, ist er zuversichtlich.
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Verbale und körperliche Angriffe gehören zum Schulalltag
Hier halten sie eine Menge aus, verbale und körperliche Angriffe sind an der Tagesordnung. Trotz ritualisierter Strukturen, stetem Wechsel zwischen Lern- und Spielzeit, sozialpädagogischen Angeboten und dem Curriculum aus Lesen, Schreiben, Rechnen. „Wir gucken uns die Kinder täglich an und entscheiden individuell, ob sie überhaupt mitarbeiten können“, erklärt Pelzer. Die Kinder seien mitunter in „heftigen psychischen bis psychiatrischen Krisen, Unterricht ist dann zweitrangig“.
Zur Verdeutlichung zitiert Schulleiter Marienfeld eine Studie, nach der weit über 50 Prozent der Kinder in einer Förderschule psychisch auffälliger sind als die jungen Patienten einer Psychiatrie. „Viele unserer Kinder sind so ausagierend, dass sie nach wenigen Tagen aus der Klinik entlassen würden.“
Eins fällt noch auf an diesem Tag: Nur ein Mädchen ist in dieser Klasse. Das entspreche dem Durchschnitt bei Schulen mit emotional-sozialem Förderschwerpunkt, sagt Pelzer. Während Jungs laut sind, den Unterricht stören, „externalisiert“ wirken, bleiben Mädchen eher unter dem Radar. Sie leiden eher an Depressionen, Borderline-Störungen, „das ist genauso schlimm für die Betroffenen, fällt aber nicht so auf“.
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Teilhabe ist das oberste Ziel für die Kinder
Ziel der Gruppe ist eine schulische und gesellschaftliche Reintegration. Die Wahrscheinlichkeit, dass eins der Kinder in einer Regelschule unter 30 anderen Kindern ohne sonderpädagogische Begleitung klarkommt, ist jedoch für viele nicht besonders groß. Deshalb fokussiert sich das Team auf Ziel Nummer zwei: Teilhabe am gesellschaftlichen Miteinander. Die Zukunftschancen steigen für diese seelisch behinderten Kinder deutlich, ist Pelzer sicher. Denn klar ist: „Das wächst sich nicht aus, aber die Förderungen greifen, lassen die Kinder teilhaben und schließen sie nicht aus.“