Duisburg. Seine Mutter verzweifelt: Jannick (8) ist sogar von einer Förderschule geflogen. Nach neun Tagen. Warum die Schulpflicht bei ihm ausgesetzt wurde.
Jannick steht jeden Morgen früh auf, macht sich mit der Familie auf den Weg zur Schule. Aber nur seine Zwillingsschwester besucht die zweite Klasse der Duisburger Grundschule. Der Achtjährige geht mit der Mama wieder nach Hause. Selbst eine Förderschule, spezialisiert auf Kinder mit Autismus-Spektrumsstörungen, hat ihn nach neun Tagen hinausgeworfen
Und so sitzt er seit anderthalb Jahren überwiegend daheim, spielt Lego oder mit den Katzen. Und bekommt eindringlich mit, wie seine Mama Katja Garski zunehmend verzweifelt und in Behördenpapier ertrinkt.
Die Krankenschwester ist alleinerziehend. Alle drei Kinder haben ADS, ihnen wurde ein Pflegegrad attestiert. Die Große ist dennoch im Endspurt zum Abitur, Jannicks Zwillingsschwester geht ganz normal zur Grundschule. Aber Jannick selber, der beim Besuch aufgeweckt wirkt, phasenweise aufmerksam zuhört, bis er unter dem Tisch abtaucht, gilt als unbeschulbar. Pflegegrad 3, 70 Prozent schwerbehindert.
Achtjähriger Duisburger gilt als unbeschulbar: Feuerlöscher als Waffe nutzen wollen
Schon in der Kita hatte er Weglauftendenzen, war aggressiv trotz verschiedener Medikamente, erzählt seine Mutter. Sie bekam von der Einrichtung eine fristlose Kündigung nach einem Gewaltausbruch, bei dem Gläser flogen. In der Grundschule wurde es nicht besser, er hat gekratzt, gebissen, getreten. Ein Lehrer schreibt, er habe „versucht, eine Sitzbank auf den Integrationshelfern zu werfen und versucht, einen Feuerlöscher als Waffe zu verwenden“. Als die Schule die Polizei rufen wollte, „habe ich ihn nicht mehr hingebracht, er war doch erst sieben Jahre alt“, sagt Garski.
Auch die Trennung der Eltern forderte die Familie, forderte Jannick. Stationäre Aufenthalte in der Psychiatrie wurden abgebrochen. Aus einer Reha seien sie rausgeworfen worden. Der vorerst letzte Versuch war dann der Besuch einer Förderschule im Sommer 2023. Garski schöpfte Hoffnung, gestaltete die neuerliche Einschulung nebst Schultüte. Neun Tage später war Schluss: „Er hat mit Stühlen geschmissen, sogar in Kopfhöhe Richtung Schulleitung“, erzählt die Mutter. Schönreden will sie nichts.
Oma zeigt eine Narbe, die sie von ihrem Enkel hat
Jannick krabbelt zwischendurch auf den Schoß der Oma, die eine Narbe an der Stirn zeigt, Erinnerung an einen Ausraster ihres Enkels. „Ich hab dich lieb“, sagt er und drückt sie. Dann verzieht er sich wieder unter den Tisch, spielt auf dem Handy. 1:1 funktioniere es ganz gut, sagen die beiden Frauen. Aber auch zu Hause habe er seine Aussetzer, fühle sich schnell provoziert.
Laut schulärztlichem Gutachten im November 2023 kann Jannick „am Schulunterricht mit mehreren Schülern nicht teilnehmen, weil sein Verbleib in der Schule eine konkrete Gefahr für seine eigene und die physische Gesundheit seiner Mitmenschen bedeutet“. Die Fachärztin empfiehlt eine Helferkonferenz, um Möglichkeiten auszuloten und rät zum Distanzunterricht.
Schule aus der Ferne sollte in den letzten Monaten schon stattfinden, aber die Lehrer der Förderschule hätten kaum Lernmaterial geschickt, sagt Garski, sich kaum gemeldet. Jannick sagt, dass er gern rechnet, Lesen nicht so mag. Und dass er mal Oberbürgermeister werden will, wenn er groß ist. Zuletzt hatte er wenigstens eine Lernförderung. Aber in der Verwaltungslogik wird die über das Bildungs- und Teilhabegesetz nur solange gefördert, wie ein Kind eine Schule besucht. Kein Schulplatz, also auch keine Nachhilfe, die Bewilligung wurde zurückgenommen.
„Die Vorwürfe gegen meinen Jungen lassen mich nicht kalt“
Katja Gurski macht das fertig. Sie fühlt sich alleingelassen, „ich bin Mathe- und Deutschlehrerin, Schwimmtrainerin, Köchin, Handwerkerin“, zählt sie auf, ganz zu schweigen von den vielen Arzt- und Therapieterminen, den Behörden-Schriftwechseln. Ihren Job als Krankenschwester kann sie kaum wahrnehmen, weil sie ihr Kind betreuen muss. Sie werde so in die Rolle einer Bürgergeldempfängerin gedrückt.
Dabei müsse es doch eine Möglichkeit geben, dass Jannick in die Schule geht, sich mit Gleichaltrigen umgibt. „Mich macht das so traurig“, sagt sie. Die Vorwürfe „gegen meinen Jungen lassen mich nicht kalt“, das oppositionelle, herausfordernde Verhalten sei aber typisch für das Krankheitsbild. Dass Pädagogen, Erzieher oder Lehrer sich damit kaum auskennen, kaum umzugehen wissen, mit ihrem Jungen überfordert sind, kann sie allerdings nicht nachvollziehen.
Bezirksregierung: „Intensiver Austausch“ zwischen allen Beteiligten
Die Stadt Duisburg und das Schulministerium wollen sich auf Nachfrage nicht äußern, verweisen auf die Bezirksregierung Düsseldorf. Trotz Schweigepflichtsentbindung seitens der Familie kommt auch von hier nur wenig: „Die Aufklärung des Sachverhalts hat ergeben, dass alle beteiligten Stellen im intensiven Austausch untereinander und mit der Mutter stehen“, schreibt eine Sprecherin. „Mittlerweile wurde für das Kind und die Familie eine gute Lösung gefunden.“ Ab Ende März stehe eine Lernbegleitung zur Verfügung, nach Ostern sei die weitere schulische Förderung sichergestellt.
Die Brandbriefe an die Behörden in Land und Stadt, an die Medien, die ebenfalls Nachfragen stellten, haben anscheinend Bewegung in den Fall gebracht. Jannick soll Schüler der spezialisierten Neukirchen-Vluyner Sonneck-Schule werden. Allerdings in Distanz, bedauert Garski, das Betreuungsproblem ist damit also weiter nicht gelöst.
Schulpflicht kann man bei konkreter Gefahr aussetzen
Grundsätzlich könne man für einzelne Schülerinnen und Schüler die Schulpflicht aussetzen, „wenn deren Verbleib in der Schule oder deren Teilnahme an anderen schulischen Veranstaltungen eine konkrete Gefahr für die physische oder psychische Unversehrtheit anderer oder die eigene bedeutet“, schreibt die Bezirksregierung.
Diese Entscheidung werde auf Grundlage eines amtsärztlichen Gutachtens getroffen. In solchen Ausnahmefällen sei auch der Besuch einer Förderschule unter Umständen nicht möglich. Das habe nichts mit mangelnder sonderpädagogischer Kompetenz zu tun oder fehlenden Interventions- und Unterstützungsmöglichkeiten an der jeweiligen Förderschule, sondern liege am spezifischen, individuellen Krankheitsbild.
Weniger individuell scheinen die Erfahrungen von Eltern autistischer Kinder. In einer Facebook-Gruppe erlebt Garski viel Zuspruch. Mehrere Eltern auch außerhalb Duisburgs berichten, dass ihren Kindern der Rauswurf aus der Schule drohe, wenn sie nicht Beruhigungsmittel nehmen, andere schreiben, dass ihr Nachwuchs ebenfalls als unbeschulbar gelte. Viele ärgert, dass ihren Kindern dadurch die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wird. Sie beklagen, dass die Kräfte in den Bildungseinrichtungen nicht ausreichend geschult seien im Umgang mit autistischen Kindern. Bis zur echten Chancengerechtigkeit sei es noch ein weiter Weg.
>>Autismus-Spektrum-Störung (ASS)
- Die Unterschiede sind groß: Kinder mit Störungen im Autismus-Spektrum sind so heterogen, dass man keine pauschalen Aussagen zu den Möglichkeiten in ihrer Schulzeit machen kann. Manche kommen ohne Unterstützungsleistung bis zum Schulabschluss, andere brauchen einen Schulbegleiter an ihrer Seite.
- Wenn ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf erkannt wird, kann ein autistisches Kind in der Regel an eine Schule des Gemeinsamen Lernens oder an einer Förderschule zugeordnet werden.
- Viele Betroffene können die Mimik und Gestik anderer Menschen nicht richtig deuten. Äußerlich erscheinen sie fit und gesund, erst ihr Verhalten irritiert oder lässt Rückschlüsse auf eine Erkrankung zu.