Duisburg-Marxloh. In Marxloh muss ein Traditionsgeschäft schließen. Die Inhaber räumen es nur unfreiwillig aus. Schuld sei der unverdient miese Ruf des Stadtteils.

Marxloh verliert ein inhabergeführtes Traditionsgeschäft. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete das Reformhaus Jelik. Annegret Bliersbach und ihr Ehemann Marco haben das Ladenlokal in den Achtzigerjahren übernommen und seither geführt. Nach 38 Jahren verabschieden die beiden sich jetzt in den Ruhestand. Sie haben das Reformhaus zum Jahresende für immer geschlossen und räumen es dann in den nächsten Wochen komplett leer – allerdings nur unfreiwillig.

„Unsere Entscheidung hat keine wirtschaftlichen Gründe, sondern Altersgründe“, betont die 64-jährige Inhaberin. „Wenn wir zehn Jahre jünger wären, hätten wir ganz sicher auch noch zehn Jahre weitergemacht“, so Annegret Bliersbach weiter, für die die letzten Öffnungstage „sehr emotional“ waren. Ein ganzes Jahr lang dauerte die Suche nach einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger und tatsächlich habe es zahlreiche Interessenten gegeben. „Aber als sie erfuhren, dass wir in Marxloh sind, sind sie alle abgesprungen“, bedauert Bliersbach, die nicht nur eine gebürtige Marxloherin ist, sondern auch eine waschechte Lokalpatriotin.

Schlechtes Marxloh-Image: Inhabergeführtes Traditionsgeschäft findet keinen Nachfolger

Das schlechte Image von Marxloh hat ihr zufolge das Ende ihres Reformhauses an der Kaiser-Friedrich-Straße, direkt am Pollmannkreuz, besiegelt. Die Schuld gibt sie „negativen Medienberichten“ im Fernsehen sowie in überregionalen Zeitungen und Zeitschriften. No-Go-Area, Clan-Hochburg, ein Paradies für Drogenhändler und für andere Kriminelle, all dies hätten Auswärtige im Kopf, wenn sie an den Stadtteil denken – ohne ihn tatsächlich zu kennen, geschweige denn das Zusammenleben der Menschen dort.

„Viele denken, hier wäre immer Mord und Totschlag, aber wir kommen alle gut miteinander aus“, ergänzt Marco Bliersbach, und auch seine Frau stimmt zu: „Das Leben ist hier ganz anders als das schlechte Image.“ Die beiden loben die Gemeinschaft im Stadtteil und die „nachbarschaftliche Hilfe“ ungeachtet kultureller oder religiöser Unterschiede.

„Schönreden“ wollen sie aber auch nichts. Das Pollmannkreuz ist ein Kriminalitätsschwerpunkt, „aber tagsüber muss man keine Angst haben“, betont die Biohändlerin, und außerdem würden die Verbrecher „alles unter sich ausmachen“ und ließen Händler und ihre Kunden in Frieden.

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„Wir hatten nie Berührungsängste oder Vorurteile“, betont Annegret Bliersbach im Hinblick auf die vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft in Marxloh und sieht dies als eines ihrer langjährigen Erfolgsrezepte für das Reformhaus. Dennoch hat sich der Stadtteil, in dem sie aufgewachsen ist, drastisch verändert – und damit auch sein Ruf. Früher, in den Sechziger- bis Achtzigerjahren, seien die Menschen aus ganz Duisburg und der Umgebung nach Marxloh zum Einkaufen gekommen, weil es beliebte Kaufhäuser gab und zahlreiche Fachgeschäfte. „Da war hier noch richtig Leben.“ Davon sei heute fast nichts mehr übrig.

Sterbender deutscher Fachhandel im Duisburger Norden? Biohändlerin ist gegen pauschales Genörgel

Dass es kaum noch deutschen Fachhandel gibt, bedauert die selbständige Geschäftsfrau, sagt aber auch ganz klar: „Der Kunde stimmt mit den Füßen ab.“ Jedoch lässt sie pauschales Genörgel nicht gelten. Zwar gibt es in Marxloh, so eine häufig zu hörende Beschwerde, kaum noch einen Metzger, der auch Schweineschnitzel oder -koteletts verkauft. Tatsächlich gibt es die Metzgerei Schönnebeck im Stadtteil und auch der Traditionsbetrieb Sieveneck ist fast um die Ecke, in Röttgersbach.

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Der Stadtteil hat sich gewandelt, aber die Lokalpatriotin will nicht nur aufs Negative schauen, sondern auch das Positive hervorheben: „Marxloh ist jetzt ein Mekka für Brautmode“, sagt sie nicht ohne Stolz und freut sich, dass junge Frauen und ihre Verlobten aus ganz Europa kommen, um an der Weseler Straße einzukaufen.

„Nur gut fünf Prozent unserer Kunden sind Deutsche“ – muslimische Communitys waren Überlebensgarant

Ohnehin ist das Ehepaar den türkischen und kurdischen Communitys sehr dankbar. Ohne deren Akzeptanz hätten die Bliersbachs ihr Reformhaus vermutlich nicht fast vier Jahrzehnte lang in der Fußgängerzone halten können. So seien seit der Eröffnung der Merkez-Moschee und der Begegnungsstätte 2008 zahlreiche Kundinnen und Kunden hinzugekommen.

Guter Service habe sich dort und auch in muslimischen Großfamilien schnell herumgesprochen. Zuletzt habe es in der Corona-Pandemie dank des Lieferservices eine hohe Nachfrage gegeben, aber auch Solidaritätskäufe von Lebensmitteln, Naturkosmetika oder frei verkäuflichen Medikamenten, die teils auch in Supermärkten und Drogeriemärkten erhältlich sind.

„Nur gut fünf Prozent unserer Kunden sind Deutsche“, sagt Annegret Bliersbach. Ein Großteil der Kundschaft kommt aus dem Stadtteil und hat türkische Wurzeln. Da die Marxloherin selbst kein Türkisch spricht, seien die Beratungsgespräche wegen Sprachbarrieren selten einfach gewesen, trotz der Hilfe durch Pharmazeutinnen aus der benachbarten Apotheke, die bei schwierigen Fällen übersetzten. Deshalb ist die Geschäftsfrau fest davon überzeugt: „Ein türkischstämmiger Nachfolger hätte sich eine goldene Nase verdienen können.“

Wochenendarbeit und kaum Urlaub – Reformhäuser haben ein Nachwuchsproblem

Nun ist es anders gekommen. Marco Bliersbach sieht allerdings noch andere Gründe als den Standort, warum niemand das Geschäft übernommen hat. Denn auch viele andere Reformhäuser hätten zuletzt schließen müssen oder zumindest Nachwuchsprobleme. „Wer will denn noch freitagabends und samstags arbeiten? Junge Leute wollen unsere Arbeitszeiten nicht mehr“, sagt der 67-Jährige. Das Ehepaar habe wöchentlich 55 bis 60 Stunden gearbeitet; sie hatte den Kontakt zu den Menschen im Ladenlokal und er lieferte die Bestellungen aus. Ein richtiger Urlaub sei für die Selbständigen nicht drin gewesen, sie hätten in 38 Jahren nur sonntags und an den Feiertagen freigehabt und nutzten diese Freizeit für Tagesreisen und Kurztrips.

Was steht jetzt für die Bliersbachs im Ruhestand an? Pläne haben sie noch nicht geschmiedet. Zunächst haben sie sich möglichst von allen ihren Stammkunden verabschiedet. An den letzten Verkaufstagen sind viele Marxloherinnen und Marxloher ein letztes Mal ins Geschäft gekommen, haben sich bei Annegret Bliersbach bedankt und sie zum Abschied umarmt. Dabei gab es auch tränenfeuchte Augen. Und auch den einen oder anderen Hamsterkauf an „Wundermitteln“ gegen so manches Zipperlein.

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Beliebt bis zum Schluss war der Edelkastanienhonig, ein langjähriger Verkaufsschlager. „Hier gab es immer einen Superservice. Die beiden haben von allem Ahnung“, lobt etwa Stammkundin Marion Taube und ist dankbar, dass die Inhaber ihr „mehr als nur geholfen“ haben.

Bis Mitte Januar wird das Reformhaus ausgeräumt. Und dann? „Leben. Einfach nur leben ohne Uhr“, freut sich Annegret Bliersbach auf den Ruhestand und auf die gemeinsame Wohnung in Vierlinden, auch wenn sie die das Ende ihres Traditionsgeschäfts sehr schmerzt. Marxloh will sie mit ihrem Mann aber treu bleiben und häufig zum Einkaufen kommen – auch, um die letzten Fachhändler zu unterstützen.

>> Wachsende Konkurrenz für Reformhäuser

● Der Trend zur bewussten, fleischlosen Ernährung ist ungebrochen. Doch kam man um die Jahrtausendwende für vegane und nachhaltige Produkte kaum an Reformhäusern vorbei, ist die Konkurrenz längst gewachsen. Inzwischen finden sich viele entsprechende Produkte auch in Supermärkten, Discountern und Drogerien.

● Umsatztreiber bleiben laut dem Fachmagazin Biopress allerdings frei verkäufliche Naturarzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel sowie zertifizierte Naturkosmetik.