Duisburg-Marxloh. Einst shoppten sogar Düsseldorfer in Marxloh. Dann kam der Abstieg. So stieg die Weseler Straße zur einzigartigen Brautmodenmeile Europas auf.

Die Brautmodenmeile in Marxloh ist ein europaweit einzigartiges Phänomen. Ein ganzes Viertel, das sich ums Heiraten drehen: fast hundert Brautmodenläden, dazu Juweliere, Kindermodengeschäfte, Beauty-Salons, Fotostudios, Anbieter von Deko und Ausstattung für den ersten Haushalt. Alles, was Hochzeitspaare für den großen Tag brauchen, ist an der Weseler Straße und an ihren Nebenstraßen zu finden.

Jedes Wochenende kann man beobachten, was viele das Wunder von Marxloh nennen: Kunden aus ganz Europa kommen, um sich für die Hochzeit auszustaffieren. Doch wie kam es eigentlich dazu? Diese Frage kann wohl niemand wirklich beantworten. Vielmehr sind es Mosaiksteinchen von Erinnerungen verschiedener Akteure, die am Ende zu einem Bild führen, wie es gewesen sein könnte.

Früher kamen sogar Düsseldorfer zum Einkaufen nach Marxloh – heute lockt die Brautmodenmeile

Fest steht: Weit vor Erblühen der Brautmodenmeile war die Weseler Straße eine derart attraktive Einkaufsstraße, dass sich selbst Düsseldorfer auf den Weg nach Marxloh gemacht haben. Das war in den 60er und 70er Jahren. Juweliere, Modeläden, Kaufhäuser. Dazu gepflegte Jugendstilhäuser – ein gehobenes Ambiente.

Anfang der 90er Jahre war die Weseler Straße noch vierspurig – und der klassische Einzelhandel zahlreich vertreten.
Anfang der 90er Jahre war die Weseler Straße noch vierspurig – und der klassische Einzelhandel zahlreich vertreten. © Stadt Duisburg | Uwe Köppen

Das Quartier rund ums Pollmannkreuz galt als Pelzzentrum. Pelze Geyer war nur eins von vielen Geschäften. „Ältere Marxloher erzählen, dass Geyer der Pelzladen in Nordrhein-Westfalen, wenn nicht sogar in ganz Deutschland war“, sagt Kinderarzt Dr. Christoph Fangmann, der seit 1999 Am Grillopark praktiziert. Auch über die vielen Autos mit Düsseldorfer Kennzeichen, die in Marxloh unterwegs waren, reden sie heute noch gern.

So mancher macht die Fußgängerzonen in Marxloh für den Niedergang verantwortlich

Irgendwann begann der Niedergang. Monika Scharmach, die mit ihrem Mann eine BMW-Niederlassung an der Kaiser-Wilhelm-Straße inklusive Werkstatt an der Hagedornstraße betrieben hat, sagt: „Der Abwärtstrend begann damit, dass die Kaiser-Wilhelm-Straße Ende der 70er Jahre zur Fußgängerzone gemacht wurde.“ Gleiches passierte mit der Kaiser-Friedrich-Straße.

Das sei auf eine Initiative der Modehändler Weingarten und Grünewald zurückgegangen, die von einer Fußgängerzone begeistert waren, die sie in der Schweiz gesehen hatten. „Mehrere Metzger und Pelzhändler sind damals schnell aus Marxloh abgehauen“, sagt die 72-Jährige. Die Scharmachs zogen mit ihrem Autohaus 1988 nach Meiderich um.

Die Weseler Straße 1997: vom heutigen Glamour noch keine Spur.
Die Weseler Straße 1997: vom heutigen Glamour noch keine Spur. © picture-alliance / dpa | Oliver Multhaup

Rechtsanwalt Rainer Enzweiler sieht auch andere Ursachen, warum es mit Marxloh bergab ging: „Umweltbelastung und immer mehr Migranten, für deren Integration viel zu wenig bis gar nichts getan wurde.“ Als der Hochofen Schwelgern 1 im Jahr 1973 an den Start ging und in Marxloh nicht nur für Lärm und Gestank sorgte, zogen viele Familien weg. Enzweilers Familie besaß bis in die 70er drei Kinos in Marxloh. Das „Atlantis“ hatte 1000 Plätze und war sogar Premierenkino.

Bevor die Brautmodenmeile entstand, herrschte Tristesse in Duisburg-Marxloh

Der ehemalige CDU-Ratsfraktionsvorsitzende betreibt seit 1975 seine Kanzlei an der Weseler Straße. Er hat die ganze Entwicklung miterlebt: „Marxloh war immer ein Einwanderungsstadtteil. Anfangs kamen Menschen aus Korea, Italien, Spanien, Portugal und dem ehemaligen Jugoslawien. Da gab es keine Probleme. Auch die erste Generation der türkischen Zuwanderer war kein Problem.“

Schwierig sei es erst in den 90er Jahren geworden: „Eine Ursache ist für mich das türkische Fernsehen. Viele Männer haben sich Ehefrauen aus der Türkei geholt, die oft kein Deutsch gelernt haben. Man konnte hier in Marxloh leben, ohne unsere Sprache zu sprechen.“ Die Stadt habe damals versäumt, „die Weichen für eine vernünftige Integration zu stellen“.

„Topkapi“ war nach Angaben von Inhaber Ali Kemal Bayratar der erste türkische Juwelier in Marxloh. Seine Familie eröffnete das Geschäft schon 1991.
„Topkapi“ war nach Angaben von Inhaber Ali Kemal Bayratar der erste türkische Juwelier in Marxloh. Seine Familie eröffnete das Geschäft schon 1991. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Es passierte, was in solchen Gemengelagen fast zwangsläufig passiert: Besser situierte Bürger verlassen den Stadtteil, die Mieten sinken, den Geschäftsleuten bleiben zahlungskräftige Kunden weg. „Auch die Häuser sind zunehmend verfallen, weil sich die Sanierung bei den niedrigen Mieten einfach nicht lohnt“, so Enzweiler.

Viele Dönerläden machten zu und wurden zu Brautmodenläden umgebaut

„Sogar Woolworth ist weggezogen, weil das Haus so marode war“, weiß Michael Kanther, stellvertretender Leiter des Stadtarchivs. In den 90er Jahren war der Leerstand enorm. „Und dann kam auch noch die große Baustelle auf der Weseler Straße. Zwischen 1997 und 1999 wurde sie von vier auf zwei Fahrspuren umgebaut. Das brachte Marxloh zum Erliegen“, erinnert sich Selgün Çalisir.

Der Chef des Marxloher Werberings hat seit 1991 ein Steuerbüro an der Kaiser-Wilhelm-Straße. „Ende der 90er haben viele Händler das Handtuch geworfen.“ Çalisir zählt auf: Schuhe Kos, Abba, Sinn Leffers, Horten, Jeansläden und auch die letzten Pelzgeschäfte. „Ich konnte hier ja nicht weg. Ich habe meinen Kunden damals alle drei Monate eine neue Wegbeschreibung geschickt.“

Die Mieten waren im Keller, der Leerstand enorm: „Viele Vermieter haben zur Nebenkostenabdeckung vermietet.“ Dönerläden, Spielhallen und Billigsupermärkte – das war es, was die Weseler Straße zu bieten hatte. Irgendwann kam ein findiger Geschäftsmann auf die Idee, auf Brautmode zu setzen.

Alle Brautkleider kommen aus der Türkei – das war auf der Brautmodenmeile schon immer so

Denn auch damals gab es natürlich schon jede Woche Hochzeiten. Nur dass die Familien in die Türkei gefahren sind, um sich für die Hochzeit auszustatten. Statt Urlaub zu machen, mussten sie sich um Anproben und Änderungen kümmern. Das kann in Stress ausarten. Warum es den Türken in Deutschland nicht leichter machen und hier Kleider anbieten – importiert aus der Heimat?

Auch für Kinder gibt es Modeläden auf der Brautmodenmeile. Die neunjährige Gülcan zeigt bei SK Kids an der Kaiser-Wilhelm-Straße, was Mädchen zu festlichen Anlässen tragen.
Auch für Kinder gibt es Modeläden auf der Brautmodenmeile. Die neunjährige Gülcan zeigt bei SK Kids an der Kaiser-Wilhelm-Straße, was Mädchen zu festlichen Anlässen tragen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Michael Kanther vom Stadtarchiv hat auch zur Brautmodenmeile recherchiert. Er geht davon aus, dass das erste Brautmodengeschäft schon 1996 an der Kaiser-Wilhelm-Straße entstanden ist, angegliedert an ein Reisebüro. Wer auch immer die Pioniere waren, sie inspirierten ihr Umfeld. „Die Brautmodeläden haben mit der Zeit die vielen Dönerläden verdrängt. Viele Betreiber haben umgesattelt auf Kleider. Das Geschäft ist lukrativer und sauberer“, sagt Selgün Çalisir. Das sei Anfang der 2000er Jahre gewesen. Natürlich waren dafür Investitionen nötig. „Da hat die ganze Familie mitgeholfen. Zur Bank ist kaum jemand gegangen.“

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So richtig Fahrt nahm die Meile auf, als einzelne Geschäftsleute Werbung in Serien im türkischen Fernsehen gebucht haben. „Das waren Mafiaserien oder Geschichten aus der Welt der Reichen und Schönen. Da konnte man Schrift- oder Pausenwerbung schalten. Die Serien werden in ganz Europa geguckt. So hat sich rumgesprochen, was sich in Marxloh entwickelt“, erinnert sich Çalisir. Dazu kamen Anzeigen in türkischen Tageszeitungen.

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Mit der Zeit eröffneten weitere Branchen rund ums Heiraten: Juweliere, Kindermodeläden, Einrichtungshäuser… „Leerstand kennen wir schon lange nicht mehr. Im Gegenteil: Die Kapazitäten werden knapp“, erklärt der Werbering-Chef. „Die Mieten an der Weseler Straße sind in den letzten Jahren stark gestiegen, die Ladenlokale echte Diamanten.“ Viele Geschäftsleute nutzen schon die oberen Etagen, manche haben Aufzüge in ihre Läden eingebaut.

Kein Leerstand, Kunden aus ganz Europa – und ganz viel Glitzer und Glamour. Das Wunder von Marxloh haben die Leute hier ganz allein auf die Beine gestellt. Es gab dafür weder einen Masterplan noch Subventionen. Auf diese Leistung ist man spürbar stolz in Marxloh. Deshalb hoffen die Geschäftsleute auf Unterstützung der Stadt Duisburg, wenn es um die Probleme des Stadtteils geht. Die drängendsten sind Parkplatznot und wild abgeladener Müll. Aber das ist eine andere Geschichte.