Am Niederrhein. Was denkt Martin Luther über die Klimakleber? Antworten gibt eine KI, die Ralf Peter Reimann von der Ev. Kirche Rheinland erstellt hat.

Martin Luther hat eine klare Meinung zu den sogenannten Klimaklebern. In seiner Zeit, dem 16. Jahrhundert, musste er sich zwar noch nicht mit solchen Problemen beschäftigen, „jedoch verstehe ich den Impuls, sich auf das Gewissen zu berufen und friedlichen Widerstand zu leisten, wenn es darum geht, auf Missstände aufmerksam zu machen.“ Martin Luther würde also die aktuellen Klimaproteste zumindest in gewissen Teilen unterstützen, wenn... ja, wenn er nicht seit 478 Jahren tot wäre. Doch Ralf Peter Reimann, Internetbeauftragter der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKIR), und sein Team haben den Reformator mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) in die Gegenwart geholt. Im Gespräch erklärt er, wie das funktioniert und ob es bald auch einen KI-Jesus geben könnte.

Wie fände Jesus einen KI-Jesus?

Die Frage müsste man am besten einem KI-Jesus-Avatar stellen. Aber nach dem, was man über Jesus weiß, würde er sicher nichts dagegen haben – solange damit die Botschaft des Evangeliums weiterverbreitet werden würde. Tatsächlich aber sind wir bewusst nicht mit einem Avatar von Jesus, sondern von Martin Luther gestartet.

Wieso?

Aus technischen Gründen. Bei Jesus haben wir das Problem, dass wir beispielsweise nicht einmal wissen, wie er ausgesehen hat. Von Martin Luther dagegen haben wir genügend Texte und Daten, die auch schon in ChatGPT zur Verfügung standen(Anmerkung der Redaktion: ChatGPT ist eine Künstliche Intelligenz, die darauf trainiert wurde, menschliche Sprache zu verstehen und darauf zu antworten).

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Avatar von Martin Luther zu erstellen?

Abends bei einem Glas Wein. In der Corona-Zeit hatten wir ein Netzwerk aufgebaut, dazu zählten Andreas Droste, der lange Innovationsmanager eines Digitalunternehmens war, und Vladimir Puhalac, dessen Firma eine Plattform für digitale Räume betreibt. Schnell war uns klar, dass ein solcher Avatar zumindest technisch eigentlich kein Problem sein dürfte. Wir mussten uns nur überlegen, wie wir den Avatar aufbauen.

Wie haben Sie das gemacht?

Für das Gesicht des Avatars haben wir uns auf das Ölgemälde von Lucas Cranach bezogen. Für den Körper hat sich ein Kollege meinen Talar angezogen und daraus haben wir dann ein 3D-Modell generiert. Danach ging es um die inhaltliche Ausgestaltung und je länger wir uns damit befasst haben, desto mehr Fragen sind aufgekommen.

Zum Beispiel?

Wir wissen, dass Martin Luther durchschnittlich groß war, allerdings waren die Menschen früher kleiner als heute. Soll der Avatar also so groß sein, wie Martin Luther tatsächlich war, oder so wie die Menschen heute im Durchschnitt? Außerdem hat Martin Luther sächsisch gesprochen. Aus der sächsischen Kanzleisprache ist aber später das Hochdeutsch entstanden. Soll der Avatar also in einem Dialekt sprechen? Aber wenn er sächsisch spräche, würde man die regionale Herkunft viel stärker betonen als die deutschlandweite Wirkung des Reformators. Es muss einem deshalb bewusst sein, dass der Avatar keine historische Figur ist, sondern eine Interpretation der historischen Figur.

Das Ölgemälde (li.) diente als Vorlage für den Avatar von Martin Luther.
Das Ölgemälde (li.) diente als Vorlage für den Avatar von Martin Luther. © ekir.de

Wie glaubwürdig ist also ein Avatar von Martin Luther?

ChatGPT wurde von uns so programmiert, dass der Avatar antworten soll, wie Martin Luther heute antworten würde. Allerdings haben wir festgestellt, dass Martin Luthers Sprache von ChatGPT zensiert wurde, weil sie teils zu derbe war: „Warum rülpset und furzet ihr nicht...“ (lacht). Dadurch ist die Prägnanz, für die Martin Luther als wortgewandter Redner bekannt war, verlorengegangen. Auch deshalb haben wir ein eigenes Large Language Model erstellt (Anmerkung der Redaktion: Ein Large Language Model ist wie ein eigenes ChatGPT), in das wir Luther-Zitate hochgeladen haben. Ferner haben wir sichergestellt, dass der KI-Martin-Luther-Avatar nicht die antisemitischen Aussagen des historischen Luthers wiederholt.

In welchen Bereichen kann ein KI-Luther sinnvoll sein?

Das Ziel war, Martin Luthers Botschaften auf unsere heutige Zeit zu übertragen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wie das weiter aussehen kann. Im Religions- und Geschichtsunterricht beispielsweise könnte durch einen KI-Luther den Texten mehr Aktualität verliehen werden. Außerdem lernen Schülerinnen und Schüler, wie eine KI funktioniert.

KI glaubt an... nichts, oder? Wie also passt sie zum Christentum?

Wenn man sich anschaut, was Religion eigentlich ist, dann stoßen wir immer wieder auf Geschichten, die erzählt werden. Das beginnt bereits mit der Hebräischen Bibel. Die mündlichen Überlieferungen wurden verschriftlicht. Im 16. Jahrhundert kam der Buchdruck dazu. Religion hat also immer die Technik ihrer Zeit genutzt und nun ist der nächste technologische Schritt gekommen.

Wie reagieren die Menschen auf eine solche Veränderung in der Kirche?

Wir merken, dass der Einsatz von Technik in Bezug auf Religion sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Eine Studie hat beispielsweise gezeigt, dass digitale Gottesdienste in der Coronazeit von Menschen sehr unterschiedlich bewertet wurden. Für manche waren solche Gottesdienste nur eine Notlösung, für andere war es eine Chance, endlich mal wieder an einem Gottesdienst teilzunehmen und sich auch aktiv zu beteiligen.

An welchen Stellen ist KI in der Kirche bereits Alltag?

Wir selbst nutzen KI beispielsweise bei der Bewertung von Kirchen auf Google. Wenn also jemand schreibt, dass ihm der Gottesdienst gut gefallen hat, dann ist unsere Antwort darauf von einer KI vorbereitet. Es guckt zwar immer noch ein Mensch darauf, der die Antwort dann auch absendet, aber trotzdem ist das eine enorme Arbeitserleichterung. Oder wenn ich selbst eine Predigt schreibe, mache ich mir oft Stichpunkte, die eine KI zu Sätzen verbinden kann.

Könnte es sein, dass bald eine KI den Gottesdienst hält?

Beim Kirchentag im vergangenen Jahr in Nürnberg habe ich an einem experimentellen Gottesdienst teilgenommen, der von einer KI generiert wurde. Da hat man schon gemerkt, dass ein Avatar auf einer Leinwand einen Menschen nicht ersetzen kann, der in der Kirche präsent ist. Und auch die Predigt selbst war geprägt von vielen Allgemeinplätzen. Da fragt man sich natürlich: Was ist überhaupt eine Predigt? Es ist doch auch ein Beziehungsgeschehen zwischen Gemeinde und Pfarrperson, es ist die Begegnung zwischen Menschen, und das lässt sich schlecht an eine KI auslagern.

Wo kommt die KI an ihre Grenzen?

Eine Künstliche Intelligenz ist kein Mensch und hat kein Bewusstsein. Auch wenn der Begriff, der übrigens aus dem Wissenschaftsmarketing kommt, eine Nähe zur menschlichen Intelligenz andeutet. Da fällt mir eine Geschichte ein: Ich wollte den persönlichen Text eines ukrainischen Flüchtlings, der nicht so gut Deutsch sprechen kann, von einer KI sprachlich glätten lassen. Daraufhin schrieb die KI: „Das ist ein sehr bewegender Text. Ich hoffe, du kannst irgendwann in dein Land zurück.“

Wow.

Genau, wow. Man denkt, dass die KI auf eine sachliche Anfrage emotional reagiert hat. Tatsächlich aber hat sie gelernt, auf Begriffe wie „Krieg“ mit Anteilnahme zu reagieren. Das ist aber immer nur eine Imitation von Emotionen. Eine KI kann keine Verantwortung für Beziehungen übernehmen. Wollen wir also jemandem, der vielleicht suizidal ist, eine KI gegenübersetzen, die nur Floskeln abspult? Ein Seelsorger hält eine solche Situation aus und kann den Menschen begleiten – mit Verantwortung, Gefühl und Empathie.

KI-Luther im Unterricht

Lehrerinnen und Lehrer, die den Luther-Avatar für den Schulunterricht nutzen möchten, erhalten auf Anfrage einen Zugang. Dazu einfach eine E-Mail schreiben an: online@ekir.de

Weitere Informationen zu dem Thema hat Ralf Peter Reimann auf seinem Blog veröffentlicht: www.theonet.de

Zurück zur Ausgangsfrage. Glauben Sie, dass nach dem KI-Luther auch ein KI-Jesus kommt?

Technisch ist das schon jetzt möglich, aber die Frage ist, welche Quellen man dafür nutzt: Worte aus der Bibel oder aus der historisch-kritischen Forschung? Ist der KI-Jesus dann der echte Jesus? Nein, höchstens eine Interpretation davon. Aber wollen und brauchen wir einen solchen KI-Jesus auf dem Smartphone wirklich? Ist es da nicht besser, Menschen erzählen einander, wer Jesus für sie ist?