Essen/Rees. Apothekensterben, Arzneimittelmangel, Personalnot – das alles kennt Esther Beckmann auch. Aber ihr Rezept für eine gesunde Apotheke geht auf.
Sie sind sprichwörtlich, die Apothekenpreise. Aber offenbar geht’s Apotheken gar nicht so gut wie wir Kunden so denken: Aktionstage, Apothekensterben, Appelle für mehr Personal. Wird Zeit, dass wir mal einer Apothekerin auf den Puls fühlen. Stephan Hermsen sprach mit Esther Beckmann (55), Inhaberin der Apotheke am Stadtgarten im niederrheinischen Rees und erfuhr überrascht: Auch Kühe sind Kunden!
Frau Beckmann, warum sind Sie Apothekerin geworden?
Mir war ziemlich schnell klar, dass ich gerne selbstständig sein möchte und die Kombination von Naturwissenschaft und Unternehmertum interessant fand. Biologie ist mein Ding, das habe ich schon in der Schule im Leistungskurs gemerkt. Auf Pharmazie bin ich gekommen, weil das die ideale Mischung ist. Die meiste Freude macht mir immer noch das Beraten und Herstellen von Arzneien Und eine eigene Apotheke bietet die Chance, Familie und Beruf zu vereinen. Ich bin heute Mutter von wunderbaren 16 jährigen Drillingen, die übrigens hier in Essen geboren wurden.
Als Apothekenkunde denke ich ja, Apotheker suchen raus, was auf meinem Rezept steht und verkaufen mir im Zweifelsfall noch eine Brandsalbe.
Dann sind Sie in der glücklichen Lage, selten in eine Apotheke zu müssen. Wir haben eine Lotsenfunktion, die fängt bei Sonnenschutz, Allergien und Mückenstich an hört beim Fieber auf. Wir beraten: Muss ich zum Arzt oder kann ich mir selber helfen? Viele gehen erst zur Apotheke und dann zum Arzt. Verrücktes Beispiel vom vergangenen Samstag: Da kam ein junger Bauer zu mir, der hatte Angst, dass seine Kuh erblindet und der Tierarzt war nicht erreichbar. Wir haben überlegt: Was kann die Apotheke machen? Muss man das Auge befeuchten? Brauche ich ein Antibiotikum? Das kann ich ohne Rezept nicht, schon gar nicht für eine Kuh. Wir haben dann einen Tierarzt erreicht. Der Bauer schrieb mir am Abend, er sei so froh, dass ich da gewesen bin. Also: die Kombination aus unternehmerischer und wissenschaftlicher Tätigkeit, verbunden mit dem direkten Kontakt mit Menschen – das macht für mich den Beruf aus.
Wie war Ihr Weg vom Bio-Leistungskurs am Emmericher Gymnasium zur Apotheke in Rees?
Nach dem Abitur wollte ich zunächst in Utrecht Pharmazie studieren, weil ich gern nach Holland wollte und mir in Deutschland der NC im Weg stand. In Utrecht waren damals die Studiengebühren hoch und mein Abitur wurde nicht anerkannt. Daher habe ich erst eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-Technischen Assistentin in Hannover gemacht. In Saarbrücken habe ich dann das Studium der Pharmazie drangehängt. Der Wunsch nach einer eigenen Apotheke zeichnete sich schnell ab. Zusammen mit meinem Mann und der Unterstützung meiner Eltern habe Ich den Standort in Rees gefunden. Dort suchte damals ein Mediziner für sein Ärztehaus eine Apotheke. Also eine Neugründung. Das war auch schon damals nicht selbstverständlich. Für Apotheken musste man vor 20 Jahren hohe Abschläge bezahlen.
Also haben Sie die eigene Apotheke aufgemacht?
In Köln war das damals allerdings kaum möglich. Wer da eine Apotheke übernehmen wollte, musste hohe Ablösen zahlen.
Das hat sich sicher mit dem Apothekensterben geändert?
Die Zahl der Apotheken sinkt seit langem, vor allem auf dem Land. Emmerich hatte früher neun Apotheken, fünf sind noch übrig. Schon als ich mich vor 23 Jahren entschloss, in Rees eine Apotheke neu zu bauen, hat die Apothekerkammer gesagt: Sind Sie verrückt? Aber ich habe ein Standortgutachten gemacht und gesehen, da ist dieses Neubaugebiet, also haben wir im Oktober 2000 angefangen. Mittlerweile hat in Rees ein Kollege seine Apotheke geschlossen und auch im Nachbardorf Haldern mit 5000 Einwohnern konnte die Apotheke nicht erhalten bleiben. Deutschlandweit haben allein im letzten Jahr 400 Apotheken ihren Betrieb eingestellt. Der Wandel auf dem Land ist spürbar. Mit jeder geschlossenen Apotheke, erhöht sich die Zahl der Notdienste. Bei mir sind es jetzt 31 in diesem Jahr Angefangen habe ich mit ca 22. Im Kreis Wesel, nur fünf Kilometer weiter, ist die Apothekendichte höher, da ist jeder nur 16 Mal im Dienst.
Warum ärgern Sie die Notdienste so?
Für einen Notdienst gibt es 250 Euro, dafür ist man bis zu 24 Stunden im Einsatz, Das ist nicht einmal Mindestlohn. Es wäre viel sinnvoller, gerade auf dem Land, den Notdienst mit dem ärztlichen Dienst in der Notfallpraxis am Krankenhaus zusammen zu legen. Man muss sich klar machen, dass viele Kollegen aufgrund des Fachkräftemangels nach einem Notdienst am nächsten Tag weiterarbeiten.
Warum ist das so?
Viele Apotheken leiden unter extremen Personalmangel. Es braucht eine gewisse Liquidität, um einen Betrieb modern und interessant zu führen. Für die gute Arzneiversorgung aber auch für interessierten Nachwuchs. Das Fixum von 8.34 Euro pro Packung wurde seit 2004 nicht erhöht. Der Abschlag pro Packung von jetzt zwei Euro an die Krankenkassen wurde dagegen erhöht. Bis März 2025 ist das festgelegt . Es muss ja gespart werden und da scheinen sich Apotheken immer anzubieten. Welche Branche ist seit zehn Jahren ohne Lohnerhöhung? Hinzu kommt: Krankenkassen kommen oft nach sechs bis acht Monaten und monieren Rezepte. Dann bekomme ich ein abgegebenes Medikament im Nachhinein nicht erstattet. Es sind meistens Formfehler der Arztpraxen , die manchmal ebenso an der Grenze der Belastbarkeit arbeiten. Das können Medikamente von mehreren 1000 Euro sein – den Schaden haben wir. Der Patient ist versorgt und unsere Arbeit geleistet. Die Willkür der Krankenkassen und die ausufernde Bürokratie belastet viele Teams sehr.
Dann würde ich mir jedes Rezept sehr gründlich anschauen.
Machen wir. Das bindet viel Arbeitszeit der Kolleginnen. Wir arbeiten gut mit den Praxen zusammen. Das gegenseitige Verständnis ist gestiegen. Wenn uns Fehler auffallen, oder Arzneien nicht lieferbar sind, sind es meine Mitarbeiterinnen, die beim Arzt in der Telefonhotline hängen oder zu Praxen fahren, manchmal bis Kleve oder Bocholt, um dort um eine Neuausstellung zu bitten. Das ist teure Arbeitszeit und nicht nachhaltig.
Darum sind die Apotheker so sauer, dass sie streiken?
Die Apothekenteams werden mit Bürokratie überschüttet. Wir sehen zunehmend Apothekerkollegen, die eine Art von Selbstausbeutung betreiben. Wir erklären alles, besorgen alles, auch wenn es das eigentlich nicht gibt. Wenn wir ein Medikament in einer anderen Dosierung bekommen können, besorgen wir ein neues Rezept und sagen den Kunden: „Statt einmal die Tablette mit 10 mg nehmen Sie jetzt zweimal eine mit 5 mg.“ Das macht keine Internetapotheke. Das ist eine Klatsche, wenn für diese Mehrarbeit gerade mal 50 Cent gezahlt werden.
Ihre Forderung?
Es wäre für uns eine Riesenerleichterung, wenn endlich das elektronische Rezept kommt. Das wird schon auf Korrektheit gecheckt, bevor es die Arztpraxis verlässt und wir müssen nicht damit rechnen, dass nach einem halben Jahr die Krankenkasse sagt: Für das, was ihr da verkauft habt, zahlen wir nicht.
Tröstlich für Sie, dass der Umsatz aus Haldern mit dazugekommen ist.
Die umliegenden Apotheken haben sicherlich eine erhöhte Kundenzahl. Das hat bei uns eher zu einem höheren Boteneinsatz geführt. In Haldern haben wir an einer Bäckerei und an einem Hotel Rezeptbriefkästen aufstellen dürfen. Patienten, die nicht so mobil sind, können dort Ihre Bestellungen und Rezepte einwerfen und werden täglich beliefert. Wir sind schneller und persönlicher als Amazon. Früher reichte dafür aber ein Botenfahrer mit fünf, sechs Päckchen und dem Fahrrad. Heute haben wir drei Botenfahrer mit dem Auto, die jeden Tag mehrfach fahren. Auto, Spritgeld - das muss bezahlt werden. Hinzu kommt: Man muss immer mehr tun, um Liquidität zu haben, um Innovationen mitmachen zu können. Ich habe zum Beispiel außen einen Medikamentenautomaten angeschafft in der Pandemie.
Das heißt, Sie legen ein Medikament rein und sagen dem Kunden: Heute Abend können Sie sich Tabletten aus Fach Nummer 53 holen.
Genau. Damit reduziere ich Belastung des Notdienstes und des Botendienstes. Der Kunde erhält einen Code und kann zum Zeitpunkt seiner Wahl sein Medikament holen. So sind alle glücklich: die Kunden und die Mitarbeiter, die nicht länger bleiben müssen.
Das ist Ihre Antwort auf die Internetapotheken?
Höchstens ein kleiner Teil. Die suchen sich die lukrativen Massenpräparate und die Dauermedikation heraus. Rund um den Jahreswechsel, als es überhaupt kein Paracetamol gab, haben wir unsere Zäpfchen-Form rausgeholt und welche gepresst. Etwas, was DocMorris und Co nicht können Wir stellen individuelle Rezepturen her, unterhalten ein komplettes Labor.
Seit wann ist das Apothekenleben so herausfordernd geworden?
Das hat sich in den letzten zwei, drei Jahren, vor allem in der Coronazeit, extrem verändert. Es kamen immer wieder neue Verordnungen. Das geht aber so weiter. Das stresst nicht nur unglaublich, ich müsste auch umbauen, um Impfen zu können. Aber es gibt auch positive Innovationen, zum Beispiel die pharmazeutischen Dienstleistungen, die gibt es seit September.
Was ist das denn?
Das ist wieder unser ursprünglicher Beruf, wofür wir brennen. Es ist die Möglichkeit erstmalig für Apotheken eine Dienstleistung mit der Krankenkasse abzurechnen. Einmal pro Jahr pro Patient. Ein kompletter Check-Up aller eingenommenen Arzneien und Nahrungsergänzungsmittel. 90 Euro übernimmt die Kasse für diese umfassende Medikationsanalyse. Aber nicht jede Apotheke kann so schnell in die Umsetzung gehen, denn dafür brauche ich geschultes Fachpersonal. Als einzelner Apotheker kann ich nicht zwei, drei Stunden in die Intensivberatung gehen. Wenn es gelingt, sorgen wir dafür, dass die Zusammenarbeit von Arzt und Patienten besser klappt. Die Menschen bleiben gesündern – die Kassen sparen womöglich Geld.
Medikationsanalyse stell ich mir so vor: Da kommt eine ältere Dame mit ihren Pillenpackungen und sagt: drei Ärzte haben mir fünf Sachen verschrieben, gucken Sie mal, ob sich das verträgt?
Wenn jemand fünf oder mehr Präparate nimmt, gibt es die Berechtigung zur Medikationsanalyse. Die Leute sind davon begeistert. Wir klären auf, ob Medikamente falsch gelagert werden, ob der Einnahmezeitpunkt stimmt. Wir checken Doppelverordnungen. Das ist unser Beruf, wo wir wirklich helfen, dass das, was der Arzt verordnet, auch richtig genommen wird.
Auf dem Bild Ihres Teams in der Apothekerzeitung, dass Sie mir geschickt haben, sieht es aus, als könnten Sie notfalls eine Frauenfußballmannschaft aufstellen.
Im Moment sind wir gut aufgestellt. Aber ich habe halt auch eine richtig schöne Landapotheke, wo es Spaß macht. Wir bekommen direkte Rückmeldungen von Kunden und wir sind in gutem Austausch mit anderen Apotheken ringsum. Das ist heute wichtiger denn je. Derzeit sind rund 450 Wirkstoffel nicht lieferbar. Das fängt beim Herpesmittel an, geht über Blutdrucksenker, Fiebersäfte, bis zu den Antibiotika. Wenn ein Apotheker Fiebersaft über seinen Großhandel bekommen hat, sagt man bei uns auf dem Land schon mal: “Ich habe jetzt 20 Flaschen, du hast Sonntag Notdienst, hier sind schon mal zehn für dich“. Das gab es vor zwei, drei Jahren nicht: Weder den Mangel noch diesen Zusammenhalt.
Also haben Sie genügend Mitarbeiter für alles?
Aktuell würden wir gern eine pharmazeutisch-kaufmännische Assistentin oder Assistenten ausbilden. Da haben wir bisher keine geeignete Bewerbung. In den letzten zwei Jahren habe ich viel über Führung gelernt, habe mich damit sehr beschäftigt und wahrscheinlich auch wenig geschlafen. In der Krise zeigt sich der Charakter. So habe ich auch meine Mitarbeiter noch einmal neu kennengelernt mit allen Stärken und Schwächen. Der eine konnte quasi nicht mehr vor die Tür gehen, der nächste sagt: „Jetzt krempeln wir die Ärmel hoch! Wo ist der Mundschutz? Ich fange an zu testen.“ Viele sind über sich hinausgewachsen.
Das heißt: Der Erfolg Ihrer Apotheke hängt am Teamwork?
Mit Sicherheit. Meine älteste Mitarbeiterin - sie hat die Apotheke mit mir aufgebaut ist jetzt 64 geworden. Die hat mir gerade eröffnet, dass sie nicht in Rente gehen möchte. Sie liebt Ihren Job und entwickelt sich stets weiter. Ein besseres Aushängeschild für mich als Unternehmerin gibt es doch gar nicht, als wenn jemand sagt: Ich möchte bleiben.