Kreis Kleve. Bis in die 80er Jahre wurden Totgeburten in den Niederlanden nicht offiziell beerdigt. Schriftsteller Jaap Robben hat das tief bewegt.
Sein Roman steht auf den niederländischen Bestsellerlisten ganz oben. Jaap Robben aus Kranenburg hat mit „Schemerleven“ einen echten Erfolg hingelegt. Einfühlsam beschreibt er darin das Leben der jungen Ietje (Elfrieda), die in den 60er Jahren ein uneheliches Kind tot zur Welt gebracht hat und welches ungetauft in Nimwegen am Rande eines Friedhofes beerdigt wurde - ohne Gedenken, ohne Wissen der Mutter, die ihr Leben lang auf der Suche nach der Wahrheit über ihr Kind ist.
Tausende solcher Fälle hat es in den konfessionsstrengen Niederlanden nach dem Weltkrieg gegeben. Jaap Robben hat das zum Thema gemacht und einen ergreifenden Roman über den Umgang mit Totgeburten in den Niederlanden geschrieben.
Er trifft sich mit der NRZ im Café Samocca in Kleve und berichtet über seine Recherchen und Erlebnisse im Zusammenhang mit diesem Buch. Da sich Autor und Interviewer kennen, duzen sie sich.
NRZ: Ein uneheliches Kind war in den Niederlanden der 60er Jahre eine richtige Schande. Galt das nur im katholischen Nimwegen?
Jaap Robben: Eigentlich galten diese Moralvorstellungen in den gesamten südlichen Niederlanden, aber auch in Norddeutschland, Belgien und England. Aber auch nur da. In Polen oder Italien wurden diese Kinder sehr wohl beerdigt. Bei meinen Lesungen kommen viele auf mich zu und erzählen mir ihre Geschichten. Das ist jedes Mal eine sehr emotionale Angelegenheit. Die Leute haben eigentlich keine Fragen, sondern wollen nur sagen, dass es ihnen genauso ergangen ist. Viele Menschen fühlen sich sehr mit der Geschichte verbunden. Das hat mich überrascht, weil ich dachte, dass das so eine abnormale Story ist.
Du berichtest von einer enormen Zahl von Kindern, die verschwunden und verscharrt worden sind.
Ja, das stimmt. Ich habe mit einer Wissenschaftlerin der Radboud-Universität in Nimwegen gesprochen, die zwar keine konkreten Zahlen nennen kann, weil dies nirgends festgehalten wurde, aber wir müssen mit zehntausenden Fällen rechnen. In den Niederlanden wurden uneheliche Kinder von den 50er bis in die 80er Jahre nicht standesgemäß beerdigt, weil es nicht erlaubt war. Der Umfang ist unglaublich groß.
Ich fand es erschreckend zu lesen, dass dies noch gar nicht so lange her ist und wie wenig Respekt man den Frauen gegenüber zum Ausdruck brachte. Ietje erfährt nach der Geburt nicht, was mit ihrem Kind passiert ist.
Das ist sehr bedrückend, ja. Ich habe viel recherchiert, denn ich wollte zwar eine fiktive Geschichte schreiben, aber vor einem realen Hintergrund. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen und viel darüber gelesen. Auch in meiner Familie sind solche Fälle vorgekommen. Hier waren es Zwillinge, die nicht beerdigt wurden. Das Buch ist eine Mischung aus Phantasie, Recherche und Dingen, die ich erfahren habe.
In dem Roman springst Du zeitlich immer wieder zwischen den 60er Jahren und der alten Frau im Altenheim. Das ist jedes Mal ein ziemlich harter Schnitt, auch was die Moralvorstellungen und Lebensweisen angeht.
Das fand ich auch überraschend: Was für eine Entwicklung muss diese Person in ihrem Leben durchgemacht haben? In meinem Leben ändert sich nicht so viel.
Ietje wird von ihren Eltern verstoßen, nachdem sie erfahren, dass sie ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann hat. Eigentlich hätte man erwartet, dass zumindest die Mutter versteht, in was für ein Elend sie ihre Tochter stürzt.
Ich denke, dass für die Familie der gesellschaftliche Druck viel schwerer wog als das individuelle Gefühl. Wenn die Eltern jeweils allein sind mit der Tochter, zeigen sie auch Emotionen. Die Eltern sind aber gefangen in dieser gesellschaftlichen Konvention. Sie handeln nicht aus sadistischen Motiven, sondern sie wollen ihre Tochter im Grunde beschützen. Auch Otto, ihr Liebhaber, lebt in seiner streng katholischen Welt und kann sich nicht zu Ietje bekennen.
Es gab in den Familien früher viele Geheimnisse über den Umgang mit Totgeburten. Du beschreibst, dass man sich dies letztlich nie verzeihen kann.
Wenn man so etwas erlebt hat und sein ganzes Leben mit sich trägt, ist es unverzeihlich, wenn man erfährt, dass ein Partner dieses Geheimnis immer für sich behalten hat. Bei meinen Recherchen habe ich erfahren, dass die Partner, die so etwas erlebt haben, oft ein ganzes Leben lang nicht mehr darüber sprechen. Das war für mich die wichtigste Frage: Wie kann man ein Leben lang über so ein Ereignis schweigen?
Die Szenen im Krankenhaus sind besonders bedrückend. Die gefühlskalten Krankenschwestern, die unmenschlich mit der jungen Mutter umgegangen sind. War das früher im Canisius-Krankenhaus wirklich so arg?
Ja, es gibt auch viele Bilder vom Canisius-Krankenhaus aus der damaligen Zeit. Es ging sehr streng zu. Ich habe für die Szenen zuerst meiner Phantasie freien Lauf gelassen und später mit dem Wissen aus Büchern abgeglichen. Aber ich muss sagen: Die Realität war viel schlimmer als meine Phantasie.
Wie bist Du überhaupt auf das Thema gekommen?
Ich war in Nimwegen 2008 Stadsdichter. Und es gibt dort ein Denkmal für Eltern von Kindern, die gestorben aber nicht beerdigt worden sind. Ich habe zur Einweihung des Monuments ein Gedicht geschrieben und auf einmal waren da 40, 50 Frauen und die waren sehr emotional. Damals habe ich bemerkt, dass alle, die da waren, das auch erlebt haben. Darüber wollte ich mehr erfahren.
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Was macht das mit den Frauen? In Deinem Roman ist Ietje ein Leben lang traumatisiert.
Ich denke, dass diese Frauen das so nicht sagen würden. Sie würden sagen, dass es ihnen gut geht. Aber das ist vielleicht auch eine Generation, die es nicht gewöhnt ist, Gefühle zu äußern. Mir sagte mal eine Frau, dass sie kein Trauma habe, sie müsse ja nicht weinen. Aber sie würde schlecht schlafen und ihr Auge würde sich bewegen, wenn sie darüber redet. Und da denke ich: Ja, das hört sich an wie eine traumatische Erfahrung.
Ist das Buch für Dich auch Anlass gewesen, sich stärker mit der katholischen Kirche und deren Moralvorstellungen auseinander zu setzen?
Ja, das war das schwierigste. Ich bin nicht katholisch aufgewachsen oder getauft. Ich musste viel lesen und erfragen, um in diese Welt einzutauchen.
Diese Moralvorstellungen legten sich wie ein Schleier über die damalige Gesellschaft. Eigentlich ist man schon im Aufbruch und vieles ändert sich ja auch Ende der 60er Jahre.
Ich habe versucht, die Kirche nicht in ein negatives Licht zu rücken. Die Menschen haben damals wirklich gedacht, dass es besser ist, wenn man ein verstorbenes, uneheliches Kind der Mutter wegnimmt. Wenn man nichts sieht, dann hat man auch keine Beziehung zu dem Kind. Ich denke, dass die Kirchenvertreter keine sadistischen Motive gehabt haben, aber die Auswirkungen waren natürlich desaströs.
Jaap Robben, Schemerleven, 310 Seiten. Verlag De Geus. 23,99 Euro.
>> Jaap Robben
Schemerleven ist der dritte Roman von Jaap Robben. Er hat mit „Birk“ einen ersten großen Erfolg gelandet. Aber Robben schreibt nicht nur Romane, sondern auch Gedichte, Sach- und Kinderbücher. Für die NRZ hat er 2020 eine Serie über das Ende des Zweiten Weltkrieges geschrieben.
Schemerleven stand auf Platz 3 der niederländischen Bestsellerlisten. In zwei Wochen hat Robben 10.000 Exemplare verkauft. Auf Deutsch ist noch kein Buch von ihm erschienen, obwohl sei letzter Roman Zomervacht für den Booker-Price nominiert worden ist.
Robbens Bücher wurden in 15 Sprachen übersetzt, darunter arabisch, türkisch, tschechisch und albanisch. „Ich denke immer, Deutsch müsste jetzt mal an der Reihe sein - und dann kommt Albanisch… Auf Koreanisch kann ich meinen eigenen Namen noch nicht mal lesen“, scherzt er.
Jaap Robben wohnt mit seiner Familie im Kreis Kleve.