Berlin. „Zu früh eingeknickt“ – Carlo Masala sieht Versagen des Westens. Was nun droht und warum im Winter Millionen Ukrainer fliehen könnten.
Die Strategie des russischen Präsidenten Wladimir Putin geht auf. Er dürfte sich gestärkt fühlen, weil der Westen den „Siegesplan“ des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj abgelehnt hat und keine weitreichenden Waffen liefert, sagt Carlo Masala. „Der Westen ist zu früh eingeknickt“, so der Militärexperte. Was nun droht und warum im kommenden Winter mit mehr als einer Million Flüchtlingen zu rechnen sein könnte.
Der ukrainische Präsident Selenskyj ist mit seinem „Siegesplan“ bei den Verbündeten weitgehend auf Ablehnung gestoßen. Ist das ein Erfolg für Putin?
Carlo Masala: Russlands Strategie, auf die Ermattung der mit der Ukraine verbündeten Staaten zu setzen, geht auf. Diese sind nicht bereit, von Russland gesetzte rote Linien zu überschreiten. Das ist der Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland. Und das ist die Nato-Mitgliedschaft. Von daher dürfte sich Putin durch die Ablehnung des „Siegesplans“ bestärkt fühlen in seiner Vorstellung, dass er diesen Krieg relativ ungestört weiterführen kann und dass er ihn aus russischer Sicht erfolgreich zu Ende bringen kann.
Welche innenpolitischen Auswirkungen hat der diplomatische Misserfolg für Selenskyj?
Masala: Für Selenskyj ist dieser „Siegesplan“ möglicherweise eine Ausweg-Strategie. Indem er letzten Endes die Verantwortung für einen ukrainischen Sieg den Nato-Staaten gegeben hat, diese aber seinen Plan mehr oder weniger abgelehnt haben, kann er im Inneren argumentieren, dass er alles getan hat, der Westen ihn aber hängen ließ. Das könnte für ihn das Einfallstor für mögliche Friedensverhandlungen mit Russland bedeuten.
Gibt der Westen zu früh auf? Jetzt sollen nordkoreanische Soldaten die russischen Truppen unterstützen. Ist das nicht ein Indiz dafür, dass den Russen die Luft ausgeht?
Masala: Ich glaube, dass der Westen viel zu früh eingeknickt ist und seine Unterstützung reduziert hat. Da würde ich gar nicht auf das Personal gehen. Die Nordkorea-Sache ist eher symbolisch, das hat militärisch keine Bedeutung. Aber man kann argumentieren, dass auch Russland irgendwann eine Materialermüdung bekommen wird. Wenn man Experten folgt, die auf russisches Material schauen, dann sagen die meisten, das könnte 2026 eintreten. Der lange Atem, den man braucht, um diesen Punkt zu erreichen, der fehlt im Westen.
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Carlo Masala
Er ist einer der bekanntesten Militärexperten in Deutschland. Masala (Jahrgang 1968) lehrt Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er beantwortet unserer Redaktion jede Woche die wichtigsten Fragen rund um den Konflikt in der Ukraine.
Manche Militäranalysten behaupten, Russland halte derzeit ballistische Raketen und Marschflugkörper zurück, um vor dem Wintereinbruch einen Großangriff auf die ukrainische Energieinfrastruktur durchzuführen und somit die Moral der Ukrainer zu brechen. Wie schlimm wird der Winter?
Masala: Ob ein großer Angriff bevorsteht, das weiß ich nicht. Aber in der Ukraine sind jetzt schon in vielen Städten Strom und Wasser reduziert. Wenn die Kälte kommt und die Menschen keinen Strom haben, um zu heizen, und kein warmes Wasser, um sich zu waschen, dann wird dieser Winter möglicherweise der härteste seit dem Beginn der Invasion. Das wird demoralisierend wirken und möglicherweise zu neuen Fluchtbewegungen führen. Vor allem, wenn Familien mit Kindern dort nicht mehr leben können.
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Wie viele Flüchtlinge sind dann zu erwarten? Hunderttausende?
Masala: Wenn die Energieinfrastruktur in der Ukraine kollabiert und der Winter so schlimm wird, wie viele befürchten, dann reden wir von Millionen, die sich auf den Weg machen könnten. Das ist ja auch das Ziel der Russen. Das Ziel der Russen ist es, die europäischen Staaten erneut massiv unter Druck zu setzen. Vor allem Deutschland und Polen, die beiden Hauptzielländer für ukrainische Flüchtlinge.
Falls dieses Szenario eintritt, was würde das für Auswirkungen haben?
Masala: Das wird noch einmal enormen Druck auf die ukrainische Gesellschaft aufmachen, aber auch auf die Gesellschaften, die die Ukraine unterstützen und wo diese Flüchtlinge hingehen. Wir haben ohnehin schon die Diskussionen in Deutschland über das Bürgergeld oder darüber, dass die Ukrainer angeblich bevorzugt werden und über tausend andere Sachen. Das wird noch einmal einen Schub geben für die populistisch-extremistischen Parteien. Und das wird die Bundesregierung extrem unter Druck setzen.
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Was braucht die Ukraine jetzt am dringendsten?
Masala: Militärisch braucht die Ukraine alles, was man zur Kriegsführung benötigt. Gepanzerte Fahrzeuge, Panzerartilleriesysteme, Luftverteidigung nicht nur für die Städte, sondern auch für mechanisierte Brigaden, um im Donbass zu verhindern, dass Russland weitere territoriale Gewinne macht. Und gleichzeitig braucht man ein umfangreiches Paket technischer Art für die Ukraine, um zu verhindern, dass im Winter der Kollaps der Energieinfrastruktur stattfindet.