Saporischschja. Eine besondere Truppe rekrutiert sich aus Rentnern und Invaliden. Die Männer halten es nicht aus, angesichts des Krieges stillzusitzen.

„Peter“ hatte einen Schlaganfall. „Aber die Beine, die Hände und das Hirn funktionieren noch“, sagt er, breitet die Hände wie zum Beweis aus und lächelt – aber eben nur mit der linken Gesichtshälfte, die rechte ist gelähmt. „Zoro“ hat einen schlechten Fuß, einen nicht ganz funktionsfähigen Arm, chronische Kopfschmerzen und sieht nur auf dem linken Auge – Folgen einer Verletzung aus dem Krieg im Donbass. Da hat er ab 2014 mit einem Freiwilligenbataillon gegen die Russen gekämpft. Heute hat er Invalidenstatus und geht jeden Monat zu einer Reha-Maßnahme. Das hält ihn nicht davon ab, ein Kämpfer zu sein. Freiwillig.

„Panas“ wollten sie nicht mehr bei der Armee, als er sich zu Beginn der russischen Invasion 2022 freiwillig gemeldet hatte – seither ist er hier. Der „Professor“ hat seinen Kampfnamen wegen der dicken Brille. Die Augen. „Aber sonst funktioniert alles“, wie er sagt. Und „Hans“: Der ist das Küken in der Runde dieser nicht mehr ganz so jungen Herren, meist zwischen Mitte 40 und 70. Früher war er Programmierer, jetzt ist er der gute Geist der Truppe. „Ich bin kein Kämpfer“, sagt er. Aber nach dem Februar 2022 habe er nicht zu Hause bleiben können. „Da bin ich hierhergekommen – weil klar geworden ist, dass niemand diesem Krieg entkommen kann.“ Und er ist geblieben – „weil ich das Gefühl habe, dass ich hier gebraucht werde.“

Ukraine-Krieg: Die Artilleriegruppe „Steppenwölfe“ finanziert sich selbst

Hier, das ist bei der Artilleriegruppe „Steppenwölfe“. Die „Wölfe“ sind eine Einheit bestehend aus Freiwilligen, die aus Altersgründen oder wegen körperlicher Einschränkungen bei der Armee abgeblitzt sind. Hauptbasis der Einheit ist Saporischschja. Vor Kurzem war sie in der Region Charkiw im Einsatz. Es sind etwa 200 Männer. Kommandant der Truppe ist Oleksandr – ein stämmiger Rentner mit Bürstenschnitt und keckem Schmunzeln. Er ist 67 Jahre alt.

Die Mobilisierung, die Rekrutierung – all das sind emotionale Themen in der Ukraine. Dem Land fehlen Soldaten. Mitte Juli lief eine wichtige Frist des ukrainischen Verteidigungsministeriums ab: Bis dahin hatten Männer im wehrfähigen Alter Zeit, falls sie innerhalb des Landes umgezogen sind, ihre behördlichen Registrierungsdaten zu aktualisieren. Fast 16,5 Millionen Männer haben sich gemeldet. Das bedeutet nicht, dass sie sofort mobilisiert werden. Sie könnten es aber. Aktuell zieht die Ukraine tatsächlich vermehrt Männer zur Armee ein. Das stößt auf Probleme, denn viele von ihnen haben Angst zu kämpfen.

Die Freiwilligentruppe „Steppenwölfe“ hält sich bereit.
Die Freiwilligentruppe „Steppenwölfe“ hält sich bereit. © Stefan Schocher | Stefan Schocher

Umso wichtiger könnten unerschrockene Freiwilligentrupps wie die „Steppenwölfe“ sein. Hier, in ihrer Basis, wird geschraubt, gereinigt, repariert, in einer Werkstatt in einem Hinterhof irgendwo in Saporischschja. Zur Front sind es knappe 20 Kilometer. Die Stadt wird immer wieder beschossen. Spanplatten in Fenstern legen Zeugnis davon ab. „Saper“ (62) ist gerade aus dem vergleichsweise sicheren Kiew hierhergekommen. Früher war er mal Veterinärmediziner, heute ist er in Rente. Einen Monat ist er zu Hause, einen Monat ist er im Einsatz bei den „Wölfen“.

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Die stillen Helden im Krieg

Im Krisenmodus

Er ist ein gepflegter Herr mit sauberem Haarschnitt. Er sagt: „Viele haben sich zu Beginn der russischen Invasion bei der Armee freiwillig gemeldet, wurden aber nicht genommen.“ Und sie alle hätten jetzt den Eindruck, nicht so wirklich gebraucht zu werden. Damals, so sagt er, hätte man eine Reserve aufbauen können. Das habe man verpasst – weil niemand gedacht habe, dass dieser Krieg so lange dauern und mit so massiver Verbissenheit von Russland betrieben werden würde. „Stellen Sie sich vor, jemand kommt einfach in Ihr Haus und sagt, dass es jetzt seines ist, und beginnt, Ihre Familie zu töten“, sagt Oleksandr. Da gebe es keine andere Wahl, als sich zu wehren. Aber die Sache mit der Angst, die müsse jeder mit sich selbst ausmachen.

Ukraine-Krieg: Die Steppenwölfe unterstehen dem Armeekommando

„Wenn du über 60 bist, dann nehmen sie dich ganz einfach nicht mehr“, sagt er. Er hat es nach Beginn der russischen Invasion versucht. Erst war er bei der Territorialverteidigung „Teroborona“, einer Art Bürgermiliz, hat versucht, rekrutiert zu werden. Vergeblich. Schließlich hat er mit Freunden und Nachbarn die „Steppenwölfe“ gegründet. Erst war es eine kleine Gruppe älterer Herren – gewillt, ihr Land zu verteidigen wie Wölfe ihr Territorium. So drückt es „Panas“ aus. Heute sind es vier Kampfgruppen mit Kämpfern aus der ganzen Ukraine. Sogar ein Kroate ist dabei.

Der Freiwilligenverband untersteht dem Kommando der Armee, steht aber nicht in deren Sold – Soldaten im Prekariat also. „Wir arbeiten wie Partisanen“, sagt „Zoro“, „wir machen alles selbst.“ Nur die Munition und die Einsatzpläne kommen von der Armee. Die Fahrzeuge kommen von Aktivisten. Für die Adaption der Jeeps, deren Wartung sowie die Instandhaltung der Artilleriestücke, die Beschaffung von Uniformteilen und Ausrüstung müssen die Kämpfer der „Steppenwölfe“ selbst sorgen.

Sie waren zu alt oder untauglich für die Armee, aber sie werden gebraucht: die Freiwilligentruppe „Steppenwölfe“.
Sie waren zu alt oder untauglich für die Armee, aber sie werden gebraucht: die Freiwilligentruppe „Steppenwölfe“. © Stefan Schocher | Stefan Schocher

Jeder Handgriff muss sitzen: das Fixieren der Jeeps mit Auslegern, das Laden der Rohre, das Auslegen der Zündkabel, das Anvisieren und die entsprechende Ausrichtung. Immer und immer wieder werden die Abläufe wiederholt. Es könnte jederzeit losgehen. „Unser Vorteil ist, dass wir die Gegend wie unsere Westentasche kennen – jeden einzelnen Winkel, jeden einzelnen Feldweg, jede Anhöhe, jede Grube, jede Lichtung“, sagt „Krylo“, ein Mann Mitte 40 und Donbass-Veteran. Einst, als Kinder, haben sich die „Steppenwölfe“ auf diesen Wegen und in diesen Wäldern die Knie wund geschunden. Heute ist es kein Spiel. „Kit“, der „Chirurg“, einige andere – sie alle sind tot. Die Autos der Einheit tragen ihre Namen.

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