Kiew. Das Risiko, getötet zu werden, begleitet den Präsidenten jede Sekunde – auch, weil russische Agenten die Geheimdienste „durchseuchen“.
Es gibt nicht viele Menschen auf der Welt, deren Leben so bedroht ist wie das von Wolodymyr Selenskyj. Seit Russland im Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat, lebt der ukrainische Präsident in ständiger Gefahr. Gerade in den ersten Tagen und Wochen des Krieges waren im Regierungsviertel öfter Schießereien zu hören, die wohl auf russische Sabotagegruppen zurückzuführen waren. Damals gingen viele davon aus, dass Russland die Ukraine überrennen würde.
Selenskyj musste damit rechnen, gefangengenommen und getötet zu werden. Die USA boten ihm an, ihn außer Landes zu bringen. Damals fiel das legendäre Zitat: „Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit“. Die regulären russischen Streitkräfte haben die Stadtgrenze der Hauptstadt nie erreicht. Doch sein Leben ist eine einzige Gefahrenzone geblieben.
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Auch in diesem Jahr sind die Russen Selenskyj schon gefährlich nahegekommen, unter anderem als bei einem Besuch des griechischen Regierungschefs am 6. März eine Rakete in seiner Nähe einschlug. Es ist zwar eher unwahrscheinlich, dass Selenskyj das konkrete Ziel dieses Angriffs war. Doch die Situation war heikel. Der Präsident selbst sprach im März von mehr als zehn Anschlagsversuchen auf ihn, von denen ihm seine Geheimdienste berichtet hätten: „Ich zähle sie selbst nicht mehr.“
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Anfang Mai aber passierte etwas, was Sicherheitsexperten in Kiew noch stärker alarmierte. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU nahm zwei hochrangige Mitarbeiter der Verwaltung für Staatssicherheit (UDO) fest, die im Kontakt mit drei FSB-Agenten standen. Sie wollten unter anderem Personenschützer sowie Leute aus ihrer engeren Umgebung finden, die bereit wären, Selenskyj zu entführen und schließlich auch zu töten. Doch das Komplott wurde rechtzeitig aufgedeckt.
Noch konkreter war der Anschlagsplan auf Kyrylo Budanow, den Chef des Militärgeheimdienstes HUR. UDO-Mitarbeiter sollten angeblich in den ersten Mai-Tagen einen Raketenangriff auf ein Gebäude koordinieren, in dem sich Budanow befand – und dann etwas später selbst mit einer Drohne zuschlagen, um auf Nummer sicher zu gehen. Eine weitere Rakete hätte die Spuren des Einsatzes dieser Drohne anschließend vernichten sollen, heißt es nach Informationen des Inlandsgeheimdienstes.
Der Fall ist deshalb alarmierend, weil UDO-Mitarbeiter Selenskyj quasi rund um die Uhr begleiten. Einer der beiden Komplizen, der Chef einer UDO-Abteilung, ist ein enger Vertrauter des nun entlassenen Leiters der gesamten Behörde, Serhij Rud, mit dem er einst zusammen studiert hatte. Der Zusammenhang zwischen Ruds Entlassung und dem vom SBU aufgedeckten Fall ist offensichtlich.
Russische Agenten infiltrierten den Inlandsgeheimdienst SBU
Dass russische Agenten immer noch in den höheren Rängen der Kiewer Sicherheitsbehörden zu finden sind, überrascht nicht. Die Ukraine gehörte lange zur Sowjetunion und unter anderem der SBU ist faktisch direkter Nachfolger der ukrainischen KGB-Abteilung, die nach dem Zerfall der UdSSR zunächst kaum reformiert wurde. Gerade in der Amtszeit des während der Majdan-Revolution 2013/2014 nach Russland geflohenen Präsidenten Wiktor Janukowytsch waren fast alle Führungsämter im Sicherheitsbereich von Figuren besetzt, die heimlich einen zweiten russischen Pass hatten.
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Nach Janukowytschs Flucht und insbesondere nach der Krim-Annexion hat die neue ukrainische Staatsführung zahlreiche Aufräumversuche unternommen. Vor allem nach Beginn des Krieges im Februar 2022 hat Kiew durchgegriffen – insbesondere beim Inlandsgeheimdienst SBU. Dieser soll mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass die Russen die Stadt Cherson in der Südukraine blitzschnell besetzen konnten.
Unter dem aktuellen Chef, Wassyl Maljuk, arbeitet der SBU auf einem anderen Niveau. Doch die einst massive Durchdringung durch russlandfreundliche Akteure lässt sich kaum von heute auf morgen beseitigen – und es liegt in der Natur der Arbeit der Geheimdienste, dass manche Agenten lange Jahre oder gar Jahrzehnte nahezu gänzlich inaktiv und damit unverdächtig bleiben.
Selenskyj ist noch immer Symbol des ukrainischen Widerstandes
„Was an dieser Geschichte wirklich wichtig ist: Es wurden nicht nur irgendwelche Anschläge geplant“, sagt Andrij Osadtschuk, Vize-Chef des Strafverfolgungsausschusses im ukrainischen Parlament. „Es geht um ganz ranghohe Personen, um die höchste Ebene der Sicherheitsstrukturen.“ Deshalb schaut Osadtschuk mit gemischten Gefühlen auf das Komplott im UDO: „Das ist einerseits sehr traurig.“ Andererseits sei die Aufdeckung eine Erfolgsgeschichte des SBU.
„Es war eine sehr komplizierte Operation“, der Geheimdienst habe überzeugende Beweise geliefert und einen Anschlag verhindert, so Osadtschuk. Doch welche Folgen hätte ein erfolgreicher Anschlag auf Selenskyj gehabt? Im Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt Russland auf Zeit. Die Gesellschaft soll zermürbt werden. Auch wenn Selenskyj nicht mehr die enorm hohen Vertrauenswerte vom Beginn des Krieges hat, bleibt er eine starke Figur, die Menschen zusammenhält, und das Symbol des Widerstandes.
Würde Selenskyj zum Opfer eines Attentats, wäre der Krieg dennoch nicht verloren, meint der Politologe Wolodymyr Fessenko vom Zentrum für angewandte politische Forschung Penta. „Es gibt nun eine funktionierende Militärführung, die ihre Arbeit fortsetzen würde“, sagte er dem Portal RBK Ukrajina. Nur politisch gebe es derzeit „keine Figur, die die Autorität von Selenskyj hätte. Es würde dauern, zur Normalität zurückzukehren“. Und das, so der Experte, „würden die Russen eine Weile ausnutzen“.
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