Saporischschja. Die 47. Brigade an der Saporischschja-Front trägt die Hauptlast der Offensive. Die Verluste sind hoch und es geht nur langsam voran.

Am 10. Juli geraten in der Nähe von Orichiw im Süden der Ukraine drei Schützenpanzer des Typs Bradley unter russisches Feuer. Im ersten verbrennt der Richtschütze, ein junger Mann mit dem Funknamen Skiper. Im zweiten Fahrzeug enthauptet eine Rakete den Fahrer, der im Krieg den Namen Liova erhalten hat.

Etwas mehr als zwei Monate später warten in einem Waldstück in derselben Region die Männer, die mit ihnen in den angegriffenen Schützenpanzern saßen, auf ihren nächsten Einsatz. Die 47. mechanisierte Brigade trägt die Hauptlast der Kämpfe an der Front bei Saporischschja. Dort, wo die ukrainischen Streitkräfte seit dem Beginn der Gegenoffensive am weitesten vorstoßen konnten.

Ukraine: Pause zwischen den Einsätzen – "Hier kann sich unsere Seele ausruhen"

Feldbetten unter Planen, bunte Iglu-Zelte – auf einer Wäscheleine, die zwischen den Bäumen gespannt ist, hängen Socken. Am Rand des Camps befinden sich Generatoren, daneben liegen Mehrfachsteckdosen und Powerbanks. Neben Munitionskisten steht eine Palette mit vegetarischer Linsensuppe aus deutscher Produktion auf dem Waldboden. Sturmgewehre lehnen an den Bäumen oder sind an Ästen aufgehängt. Ein älterer Soldat rasiert sich vor einem in eine Astgabel geklemmten Spiegel.

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In der Ferne wummert die ukrainische Artillerie. „Hier sind wir nach unseren Einsätzen immer für drei bis fünf Tage. Unsere Seele kann sich hier ausruhen. Es ist ein friedlicher Ort“, sagt Vitaly, ein Mann Mitte dreißig mit dichtem schwarzem Vollbart.

Vitaly ist – wie alle Soldaten in der 47. Brigade – ein Freiwilliger. Vor dem Krieg war er Automechaniker. Seine Einheit wurde nach dem Beginn des russischen Überfalls aufgestellt und gilt als eine der bestausgerüsteten der ukrainischen Armee und ihres Oberbefehlshabers Präsident Wolodymyr Selenskyj. Sie soll über rund 100 Bradley-Schützenpanzer verfügen. Mit diesen gepanzerten und bewaffneten Truppentransportern aus den USA können jeweils sechs bis sieben Infanteristen an die Front gebracht werden. Vitaly ist im vergangenen Jahr im oberpfälzischen Grafenwöhr zum Fahrer eines Bradleys ausgebildet worden. Als im Juni die ukrainische Gegenoffensive beginnt, sind er und seine Leute von Anfang an dabei.

Soldaten der 47. Brigade – von links nach rechts: Roman (Scharfschütze), Oleh (Richtschütze) und Vitaly (Mechaniker und Fahrer) vor einem Bradley-Kampffahrzeug nahe der Stadt Orkhiv an der Saporischschja-Front.
Soldaten der 47. Brigade – von links nach rechts: Roman (Scharfschütze), Oleh (Richtschütze) und Vitaly (Mechaniker und Fahrer) vor einem Bradley-Kampffahrzeug nahe der Stadt Orkhiv an der Saporischschja-Front. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

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Die ukrainischen Kommandeure ändern die Taktik – damit nicht zu viele sterben

In den ersten Wochen erleiden sie fürchterliche Verluste. Die russischen Stellungen sind gut ausgebaut, der Widerstand ist erbittert. Anders als im Herbst vergangenen Jahres, als die ukrainischen Streitkräfte im Nordosten des Landes binnen weniger Tage Tausende Quadratkilometer befreien konnten. Nach den ersten gescheiterten Sturmangriffen ändern die ukrainischen Kommandeure die Taktik, sie lassen nur noch kleinere Trupps nach vorne gehen. Damit nicht zu viele Soldaten sterben.

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Die Russen haben gewaltige Minenfelder angelegt, die sie zusätzlich mit Sprengfallen gesichert haben. Für die Minenentschärfer in den Unterstützungseinheiten ist die Räumung eine Mammutaufgabe. Manchmal liegen mehrere Minen übereinander. Wird eine angehoben, explodiert die darunter. Auf einen Quadratmeter sind bis zu fünf der handtellergroßen Anti-Personen-Minen vergraben, die konstruiert wurden, um zu verstümmeln, nicht zu töten. Die perfide Logik: Ein verletzter Soldat muss von zwei oder drei anderen Soldaten geborgen werden. Eine Explosion bindet gleich mehrere Soldaten. Die Schreie der Verletzten demoralisieren die Unversehrten.

„Es ist schwierig, nach dem Tod eines Kameraden wieder in ein Fahrzeug zu steigen“

Die Minenentschärfer können nur Schneisen freiräumen. „Wenn ich fahre, muss ich mich sehr konzentrieren, um auf den sicheren Wegen zu bleiben“, sagt Vitaly. Ausweichen ist häufig nicht möglich. Am 10. Juli fährt Vitaly an der Spitze eines Konvois aus drei Bradleys, als sie unter heftigen Beschuss geraten. Eine Rakete schlägt direkt dort ein, wo sein Richtschütze Skiper sitzt. Vitaly kann gerettet werden. „Wir waren lange zusammen. Auch wenn das jetzt schon lange her ist, habe ich noch immer das Gefühl, dass er bei mir ist. Ich kann einfach nicht glauben, dass er tot ist.“

Er ist der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte: Präsident Wolodymyr Selenskyj.
Er ist der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte: Präsident Wolodymyr Selenskyj. © Michael Kappeler/dpa | Unbekannt

Etwa ein Drittel der Schützenpanzer der 47. Brigade sind seit dem Beginn der Gegenoffensive beschädigt oder zerstört worden. Einen Tag vor dem Besuch im Wald ist Vitalys Fahrzeug geborgen worden – und mit ihm die Leiche Skipers. Vitaly konnte sich noch nicht von seinem Freund verabschieden, erst müssen die Forensiker die sterblichen Überreste untersuchen. „Es ist natürlich schwierig, nach dem Tod eines Kameraden wieder in ein Fahrzeug zu steigen. Aber ich werde einen neuen Richtschützen zugeteilt bekommen, wir werden uns zusammenraufen und dann werden wir uns zusammen an die Arbeit machen.“

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Im Schützenpanzer hinter Vitaly sitzt an diesem verhängnisvollen 10. Juli der 25-jährige Oleh. Er ist in Deutschland zum Richtschützen ausgebildet worden. An diesem Tag, erinnert sich der junge Mann mit dem Kosakenzopf, haben sie wenig Feuerunterstützung und geraten zwischen feindliche Stellungen. Als die russischen Geschosse in den Konvoi einschlagen, stirbt sein Fahrer Liova. „Die Rakete ist da explodiert, wo sein Kopf war.“ Oleh hängt im Turm fest. Die abgesetzten Infanteristen können nicht helfen. Draußen tobt die Hölle. Erst als der dritte Bradley nahe heranfährt, gelingt es der Besatzung, Oleh aus dem getroffenen Fahrzeug zu ziehen.

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Ukraine-Krieg: Über die Toten reden sie nur wenig

„Einige der Jungs, die so etwas erlebt haben, wollen nicht mehr in einen Bradley steigen, weil sie wissen, was sie erwartet“, sagt Oleh. Als er das erste Mal wieder in einem der stählernen Ungetüme sitzt, ist er sehr nervös, die Angst fährt mit. Bislang ist er noch nicht wieder direkt nach vorne geschickt worden, sondern nur auf einige kurze Missionen. Mittlerweile fühle er sich aber bereit, an die Front zu fahren, sagt er. Seit Kurzem sind die Bradleys zusätzlich mit einer Reaktiv-Panzerung ausgestattet. „Das gibt uns körperlichen und mentalen Schutz.“

In ihrem Camp haben die Männer Wäscheleinen gespannt und versuchen, etwas zur Ruhe zu kommen.
In ihrem Camp haben die Männer Wäscheleinen gespannt und versuchen, etwas zur Ruhe zu kommen. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Über die Toten versuchten sie hier, möglichst wenig zu reden. Oleh zögert ein wenig, schaut auf seine Hände mit den schwarz geränderten Fingernägeln. „Aber wenn wir sehen, dass jemand traurig ist oder sich an einen toten Freund erinnert, dann helfen wir uns gegenseitig.“ So haben sie es gemacht, als die beschädigten Fahrzeuge zurückgekommen sind.

Soldat über ukrainische Gegenoffensive: "Härter als erwartet"

Den Männern in dem Wäldchen ist die Anstrengung der letzten Monate anzumerken. Sie sind erschöpft. Illusionen gibt sich hier niemand hin. Das operative Ziel der Gegenoffensive im Süden, das Erreichen der Küste des Asowschen Meeres, wird in diesem Jahr nicht mehr erreicht, glaubt Oleh. „Wir machen Fortschritte, aber sie sind immer noch sehr langsam.“ Eigentlich hätten sie darauf gehofft, mit den neuen Panzern größeren Erfolg zu haben. „Aber es ist härter geworden als erwartet und es ging nicht so schnell, wie wir gedacht haben.“

Die Minenentschärfer an der Saporischschja-Front haben einen der gefährlichsten Jobs, alleine hier wurden bereits mehr als 10.000 Minen geräumt.
Die Minenentschärfer an der Saporischschja-Front haben einen der gefährlichsten Jobs, alleine hier wurden bereits mehr als 10.000 Minen geräumt. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Am 23. August hissen Soldaten der 47. Brigade die ukrainische Fahne im Dorf Robotyne, wenige Tage später durchbricht die 82. Brigade die erste russische Verteidigungslinie in der Nähe des östlich gelegenen Dorfes Werbowe. Vor den Männern im Wäldchen liegen aber noch weit über einhundert Kilometer bis an die Küste. Sie alle träumen von einem Ende des Krieges. Vitaly wünscht sich, mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter am Meer sitzen zu können. Mindestens einen Monat lang. Ganz in Ruhe.

Dieser Artikel erschien zuerst am 22.9.2023

Update: Der junge Richtschütze Oleh ist im Krieg gefallen. Die Nachricht seines Todes erreichte unsere Redaktion am 1. März 2024. Oleh wurde 25 Jahre alt.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt