Berlin.. Russlands Präsident ist ein Chauvinist. Das hat auch mit Putins Zeit in Deutschland zu tun. Expertin Sabine Fischer erkennt ein System.

Russlands Präsident Wladimir Putin strebt den gesellschaftlichen Umbau seines Staates an: Frauen sollen vor allem Kinder bekommen, Kinder lernen schon in Kitas das soldatische Marschieren, und in Schulbüchern wird die russische Geschichte systematisch neu geschrieben. Das alles folgt einer klaren Logik, die auch mit Putins eigenen Erfahrungen in der Vergangenheit zu tun hat, wie die Russland-Forscherin Sabine Fischer im Interview sagt.

Teil zwei des Interviews lesen Sie hier: Zwei Putin-Sätze zeigen, wie er den Westen sieht

Frau Fischer, Sie haben ein Buch über Russlands Chauvinismus geschrieben. Wie würden Sie Putins Verhältnis zu Frauen beschreiben?

Sabine Fischer: Putin hat sein Privatleben immer verborgen gehalten. Was man aber sagen kann: Sein Verhältnis zu Frauen ist ein sehr chauvinistisches – und das macht er immer wieder klar. Nach der Scheinwahl Mitte März wurde ihm etwa die Frage gestellt, ob in der kommenden Legislaturperiode mehr Frauen in den Regionen Führungsrollen bekommen sollen. Putin hat grinsend geantwortet, in seiner Regierung lasse man sich nicht von Gender-Erwägungen leiten, sondern von persönlichen Qualifikationen. Gleichzeitig sei es natürlich gut, wenn mehr Frauen in Führungspositionen kämen. Putin ist immer wieder aggressiv und herabwürdigend mit Journalistinnen umgegangen, vor allem aus dem Westen. Er steht für ein System, das Frauen sehr wenig politische Teilhabe gibt. Was sich jetzt als Teil der Staatsideologie herausbildet, ist ein quasi-faschistisches Frauenbild. Frauen werden immer stärker auf die Rolle der Gebärenden und der Sorgenden reduziert. Das hat seine Wurzeln auch in Demografieproblemen, an denen Russland schon seit den 1990er-Jahren leidet. Mit der Pandemie haben sie sich noch verstärkt. Der große Krieg gegen die Ukraine ist eine demografische Katastrophe.

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Sabine Fischer ist Russland- und Osteuropa-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie beobachtet Wladimir Putin schon seit vielen Jahren.
Sabine Fischer ist Russland- und Osteuropa-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie beobachtet Wladimir Putin schon seit vielen Jahren. © privat | Privat

Wenn man das weiterdenkt – welche Szenarien drohen russischen Frauen?

2017 wurde häusliche Gewalt von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabgestuft. Die Situation dürfte sich weiter verschlechtern. Bis dato hat Russland bis heute rein formal eines der liberalsten Abtreibungsrechte weltweit. Das hat auch mit dem damaligen Nichtvorhandensein von Verhütungsmitteln in der Sowjetunion zu tun. Seit den 2000er-Jahren hat man mit anderen Mitteln – Finanzierung durch Krankenkassen, ideologischen Mitteln – versucht, den Zugang zur Abtreibung zu erschweren. Irgendwann könnte aber die Forderung der russisch-orthodoxen Kirche, Abtreibung nicht mehr zugänglich zu machen, gesetzlich umgesetzt werden. Noch traut man sich das nicht, weil man eine Gegenreaktion aus der Gesellschaft fürchtet. Frauen sind in der politischen Elite oder in den Führungsetagen der großen Staatsunternehmen kaum vertreten. In der personalistischen Putin-Diktatur sind sie nicht an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt.

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LGBTQ-Rechte sind für Putin ein rotes Tuch. Was genau stört ihn daran?

Alles, was von binärer Sexualität abweicht, ist eine existenzielle Herausforderung für chauvinistisch denkende Menschen. Deswegen schiebt das russische Regime diese sogenannten traditionellen Werte so stark in den Vordergrund. LGBTQI stellt all das grundsätzlich infrage. Deshalb ist die Reaktion abwehrend und aggressiv. Putins Regime hat diesen Aspekt wirklich zum Zentrum seines Kulturkampfes gegen Liberalismus und Demokratie gemacht. Das eigentliche Feindbild ist „Gayropa“. Da gibt es auch große Schnittmengen mit rechtspopulistischen Strömungen in Europa. Indem man das in Russland so stark thematisiert, schafft man auch international Anknüpfungspunkte mit AfD, Fidesz & Co., um letztlich die liberalen Demokratien zu schwächen.

Putin beim Eisbaden: „Ikonische Darstellungen.“
Putin beim Eisbaden: „Ikonische Darstellungen.“ © AFP/Getty Images | Getty Images

Putin wurde durch ein paar Erlebnisse in seinem Denken geprägt …

Ja, er ist im Leningrad (heute Sankt Petersburg) der Nachkriegszeit aufgewachsen, in ärmlichen Verhältnissen und als Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die sehr kämpfen musste, um die Existenz ihrer Familie zu sichern. Putin hat in der Auseinandersetzung mit Jugendbanden schon früh Gewalt erfahren. Er hat früh angefangen, Kampfsport zu treiben. Das macht er bis heute, es war immer Teil seines Images – und des hypermaskulinen Führerkults, der von Anfang an um seine Figur aufgebaut wurde. Man denke an die ikonischen Darstellungen in den 2000er-Jahren: Putin im Judo-Anzug, Putin beim Eishockeyspielen, Putin mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd … Er hat sich als junger Mensch sehr früh auf die Geheimdienstarbeit festgelegt. Der KGB ist selbst ein Ort der Gewalt gewesen und ein Organ, das sehr viel Gewalt ausgeübt hat. Er ist eine extrem patriarchal strukturierte Organisation gewesen, allein schon durch die stark männlich geprägte Zusammensetzung. Ein weiteres Ereignis, das ihn stark beeinflusst hat, war die demokratische Revolution in der DDR. Er war damals in Dresden stationiert und hat den Sturm der Protestierenden auf das KGB-Gebäude miterlebt. Das war für ihn offensichtlich ein Trauma. Eines, das sein Handeln als Präsident bis heute prägt.

Was ist das für ein Trauma?

Er hat dabei Macht- und Kontrollverlust erlebt. Für jemanden, der mental so strukturiert ist und der seine komplette Laufbahn und sein Leben der Geheimdienstarbeit gewidmet hat, ist diese Form des Kontrollverlustes sicherlich ein großes Trauma.

Worin sehen Sie konkret die faschistischen Züge in Russland?

Bei den Frauenrechten, aber auch in der Vernichtungspolitik in der Ukraine. Der russische Sprachgebrauch tendiert hier schon lange ins Faschistische. Da werden etwa Gedanken über „Säuberungen“ und Genozid geäußert. Innerhalb Russlands werden politische Gegner als Ungeziefer bezeichnet, das ausgetilgt werden müsse. Gleichzeitig neigt der Staat ins Totalitäre, weil er die Gesellschaft mit seiner Unterdrückung und Propaganda immer weiter durchdringt – nicht nur durch die staatlich kontrollierten Medien, sondern mittlerweile auch das Erziehungssystem und die Familien. Damit man Russland als totalitäres, faschistisches System bezeichnen kann, fehlt aber ein wesentlicher Faktor.

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Welcher ist das?

Die Massenmobilisierung. Das Regime hat mehr als 20 Jahre daran gearbeitet, die Gesellschaft zu depolitisieren und in die Passivität zu drängen. Nun bräuchte es eigentlich eine massenhaft mobilisierte Gesellschaft. Es ist aber bis heute nicht gelungen, diese breite, die Massen erfassende Unterstützung für den Krieg herzustellen. Allerdings tut das Regime einiges dafür – denken Sie etwa an die Militärerziehung in Kindergärten. In Kindergärten marschieren kleine Jungen in Uniformen und hantieren mit Spielzeuggewehren. Mädchen stehen mit Schleifen im Haar daneben. Seit Beginn des Schuljahres 2023/2024 gibt es in den Schulen immer montags die „Gespräche über Wichtiges“. Dabei wird den Kindern eingetrichtert, wie sie diesen Krieg zu verstehen haben und das Verhältnis zum Westen und zur russischen Geschichte. Erziehung, Kultur, alles wird dem Krieg und der Propaganda untergeordnet. Die Geschichte wird systematisch umgeschrieben.