Moskau. Traumata von russischen Ex-Soldaten werden selten behandelt, sondern meist ignoriert. Mit fatalen Folgen – vor allem für ihre Frauen.

Die Nacht Anfang März in der russischen Großstadt Tscheljabinsk am Ural muss die pure Hölle gewesen sein. Schon seit Langem hatten die Anwohner Angst vor dem 32-jährigen Nikita S., so berichtet es das Onlineportal „74.ru“. „Wenn er betrunken ist, wird er dumm“, erklärt einer seiner Freunde. „Wenn er nüchtern ist, ist er wie ein Mensch, ein ruhiger Typ. Aber wenn er trinkt, ist das alles weg.“ In dem fünfstöckigen Backsteingebäude in Tscheljabinsk lebte Nikitas Ex-Freundin.

Gegen 1 Uhr habe er plötzlich vor der Tür gestanden, sagt ein Nachbar. „Sie rief noch die Polizei um Hilfe“, berichten Zeugen. Aber die Beamten trafen nicht rechtzeitig ein, der betrunkene Mann erwürgte die Frau. Nikita S. war Soldat, hatte in der Ukraine gekämpft. Er hatte wohl grauenhafte, brutale Dinge erlebt – vielleicht sogar selbst getan.

Lesen Sie auch: Vier Monate an der Front in der Ukraine – Vorher-Nachher-Vergleich schockiert

Das gräbt sich tief in die Seele ein, weiß der Militärpsychologe Alexej Sacharow. „In bewaffneten Konflikten erlebt ein Mensch oft das Leid anderer, sieht Verwundete und Getötete. Der menschliche Körper nimmt jede Gewalt gegenüber einer anderen Person als Gewalt gegenüber sich selbst wahr. Das heißt: Wenn ich sehe, wie jemand getötet, vergewaltigt oder gefoltert wird, dann erfährt mein Körper in diesem Moment die gleiche psychische Belastung wie das Opfer selbst.“

Viele Ex-Soldaten leiden unter Traumata infolge des Krieges

Nikita S. ist kein Einzelfall. Im April nahmen Polizisten im Gebiet Leningrad einen 42 Jahre alten Kriegsheimkehrer fest, der seine 20 Jahre alte Freundin aus Sankt Petersburg nach einem Streit tötete und zerstückelte, berichtet das Online-Medium „fontanka.ru“. Den Täter hatte die Söldnergruppe Wagner aus dem Straflager rekrutiert. Wie viele Ex-Häftlinge, die sechs Monate an der Front in der Ukraine überlebten, wurde auch er von Russlands Präsident Wladimir Putin begnadigt. Er lebte als freier Mann – bis er zum Mörder wurde.

Alexander Fyodorov, 46, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in russischen Gefängnissen, dann zog er in den Krieg. Nun ist er zurück und geht zur psychologischen Beratung.
Alexander Fyodorov, 46, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in russischen Gefängnissen, dann zog er in den Krieg. Nun ist er zurück und geht zur psychologischen Beratung. © AFP | ALEXANDER NEMENOV

Fälle wie diese beunruhigen die Menschen in Russland. Die Hilfsorganisation nasiliu.net („Nein zur Gewalt“) befürchtet, dass in Zukunft Fälle von häuslicher Gewalt durch Kriegsrückkehrer zunehmen werden: „Tatsache ist, dass die Auswirkungen des Krieges nicht in kurzer Zeit sichtbar sind“, so die NGO. „Der Masseneffekt wird wahrscheinlich verzögert und langfristig eintreten, wenn die Mehrheit der Kämpfer von der Front zurückkehrt.“ Doch eine öffentliche Debatte darüber will Russlands Politik lieber nicht führen.

Mehr zum Thema: Krieg zerbombt die Psyche – tiefe Abgründe tun sich auf

Das Online-Medium „Meduza“ hat herausgefunden, dass es wohl Anweisungen an Journalisten gibt, einschlägige Berichterstattung zu vermeiden, „damit die Russen Kämpfer nicht als potenzielle Kriminelle betrachten und keine Angst vor ihrer Rückkehr haben“, zitiert das Portal eine dem Kreml nahestehende Quelle. Gefragt seien positive Geschichten. Etwa die, wie ein Soldat auf Heimaturlaub seine Tochter mit Blumen überrascht. Blumen für die Ehefrau, Blumen für die Mutter, auch das wird gerne gedruckt.

Russische Öffentlichkeit soll möglichst wenig erfahren

„Es besteht der Wunsch zu zeigen, dass die Jungs, die von der Front zurückkehren, wirklich höfliche, einfühlsame und fürsorgliche Menschen sind“, erzählt der Informant laut „Meduza“. Die Probleme aber bleiben. Viele Ex-Soldaten leiden unter Posttraumatischen Belastungsstörungen, kurz PTBS. Eine Erkrankung, die Kämpfer in allen Kriegen trifft. Auch viele Bundeswehr-Soldaten, die aus dem Afghanistan-Einsatz zurückgekehrt sind, leiden unter PTBS.

Russland gibt Beginn von Atomwaffenübung nahe der Ukraine bekannt

weitere Videos

    Posttraumatische Belastungsstörungen bei russischen Ex-Soldaten seien an der Tagesordnung, weiß die Psychologin Tatjana Kowalenko. „Schlafstörungen, Essstörungen, unerklärliche Aggression oder Gleichgültigkeit gegenüber Familie, Arbeit, Rückzug, Sinnlosigkeit im Leben, Alkoholsucht.“ Es komme sogar vor, sagt sie, „dass Veteranen darauf fixiert sind, mit ihren Kameraden an die Front zurückkehren zu wollen.“ Auch darüber soll die breite Öffentlichkeit möglichst wenig erfahren.

    Irina betreut als Freiwillige die Kriegsversehrten in Petersburger Krankenhäusern psychologisch und oft gegen den Widerstand der Krankenhausverwaltungen. „Wir werden ständig eingeschüchtert: Wir können das nicht schreiben, wir können nicht darüber reden“, sagt Irina. Doch die Soldaten seien froh über die Besuche im Krankenzimmer, erzählt sie. „Befindet sich ein Soldat in einem kritischen Zustand, liegt er meist in der Embryonalstellung, mit dem Rücken zu allen, den Kopf mit einer Decke bedeckt. Es gibt schwierige psychologische Fälle, bei denen man den ganzen Tag mit einer Person verbringen muss.“

    Russland: Ehefrauen kommen zur psychologischen Beratung

    Nur die besonders schweren Fälle von PTBS landen im Krankenhaus. Ex-Soldaten mit leichteren Belastungsstörungen bleiben weiter zu Hause. Und oftmals ignorieren sie die Symptome. In Perm, im Westen Russlands, kümmern sich Psychologen des Projektes „Leben nach dem Krieg“ um Kriegsheimkehrer mit Posttraumatischen Belastungsstörungen. Sie sagen: „Die Realität dieser Menschen hat sich dramatisch verändert, sie haben den Tod gesehen, für diese Menschen hat sich die Hierarchie der Werte und Bedürfnisse völlig verändert. Psychologisch gesehen erleben sie ein unglaubliches Gefühl der Einsamkeit.“

    Die Wagner-Söldner hatten in der Ukraine einige militärische Erfolge für Russland gefeiert.
    Die Wagner-Söldner hatten in der Ukraine einige militärische Erfolge für Russland gefeiert. © AFP | HANDOUT

    Die Folge: „Das ‚Überlebenssyndrom‘ ist weit verbreitet – sie fühlen sich vor ihren verstorbenen Kameraden schuldig. Gleichzeitig erlaubt es einem der ‚Heldenkomplex‘ nicht, irgendwohin zu gehen, um Hilfe zu holen“, so die Experten. „Der soziale Zustand eines Menschen nach Kampfeinsätzen und Überstellung in die Reserve ist durch die sogenannte Identitätskrise gekennzeichnet, also den Verlust der Integrität und des Vertrauens in die eigene soziale Rolle.“

    Auch interessant: Tetris als Therapie – Computerspiele helfen bei Traumabewältigung

    Unter den Menschen, die in Sankt Petersburg in Beratungseinrichtungen psychologische Hilfe suchen, seien nur sehr wenige Kriegsveteranen, so Elena Isajewa vom Sankt Petersburger Gesundheitskomitee für medizinische Psychologie. Der Grund, so Isajewa gegenüber „fontanka.ru“: „Diejenigen, die von der Spezialoperation zurückgekehrt sind, sind Helden, und Helden können sich nicht beschweren.“

    Kriegstraumatisierung wird meist schlimmer – mit fatalen Folgen

    Ein „echter Mann“, so glauben viele Kriegsheimkehrer, müsse seine Probleme selbst bewältigen. Stattdessen kämen ihre Frauen in die Beratung. Sie sagen, ihr Ehemann sei in sich zurückgezogen, sage nichts, es gebe kein Gespräch. „Er kam anders zurück“, erzählt die Frau eines Kriegsheimkehrers, „still, verschlossen.“ Er habe Albträume, zucke vor scharfen Geräuschen und Autosirenen zusammen. Seine Frau möchte er nicht belasten – er denke, es werde von alleine verschwinden.

    Doch meistens wird der Druck durch die Kriegstraumatisierung schlimmer und schlimmer. Und manchmal kommt es zur Explosion. Wie im April in Nischni Nowgorod. Dort erstach ein 44-jähriger Soldat im April 2023 seine Frau. Er war auf Heimaturlaub, spürte wohl in der Nacht, dass seine Frau ihm Geld aus der Brieftasche nehmen wollte. Es kam zum Streit – und er stach zu. Der Soldat rief noch den Krankenwagen, doch es war zu spät. Die Frau starb.