Bonn. Nach dem Terror von Solingen spricht das Land über radikale Flüchtlinge. Flüchtlingsministerin Paul setzt auf Prävention
Die Ministerin geht durch die neonlichterhellten Gänge, in denen es nach Desinfektionsmittel, Schweiß und Essen riecht, sie lässt sich das Frauencafé zeigen, das Männercafé, das Informationszentrum, die Kantine. Kurze Gespräche, freundliche Gesten. Die Flüchtlinge sind verwundert über den Besuch. Dass die Frau, die heute hier vorbeigekommen ist, in NRW die politische Verantwortung für Fluchtfragen innehat, wissen sie nicht. Die Führung durch die Unterkunft ist nicht der Hauptgrund, warum Josefine Paul nach Bonn gereist ist. Sie will sich über ein Programm austauschen und informieren, mit dem islamistische Radikalisierung frühzeitig erkannt und gestoppt werden soll.
Die Ermelkeilkaserne im Süden der früheren Bundeshauptstadt, die jetzt den Titel Bundesstadt trägt, ist über ein Jahrhundert lang militärisch genutzt worden. Erst die Preußen, dann die Bundeswehr, deren Geburtsstätte die Kaserne war. Das „Amt Blank“, Vorläufer des Verteidigungsministeriums, war hier in den 1950er Jahren untergebracht. Heute beherbergt die Ermelkeilkaserne viele Menschen, die vor militärischen Auseinandersetzungen fliehen mussten.
Der Terroranschlag von Solingen hat heftige Debatten ausgelöst
Sie ist eine von fünf Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) in NRW. Hier werden Flüchtlinge registriert, hier stellen sie Asylanträge, bevor sie weiter auf eine der 33 Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUE) des Landes verteilt werden. In diesem Jahr ist ein doppelstöckiger Containerbau auf dem Hof errichtet worden, um die Unterbringungszahl erhöhen zu können. Jetzt hat die EAE eine Kapazität von 800 Plätzen. Im September war sie zu knapp 83 Prozent ausgelastet.
Die meisten der Geflüchteten, die hier untergebracht sind, stammen aus Syrien, über 40 Prozent sind es aktuell. Syrien ist das Hauptherkunftsland der Menschen, die nach Deutschland und nach Nordrhein-Westfalen kommen, um hier Asyl zu beantragen. Aus Syrien stammt Issa al-Hasan, der Mann, der am Abend des 23. August in Solingen drei Menschen bei einem Stadtfest ermordete und acht weitere verletzte. Er soll aus islamistischen Motiven gehandelt haben. Der Anschlag löste heftige gesellschaftliche und politische Debatten über den Umgang mit abgelehnten Asylbewerbern aus.
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Paul steht seitdem unter enormen Druck. Der Grünen-Politikerin wird vorgeworfen, keine politische Verantwortung für die Behördenfehler zu übernehmen, die dazu führten, dass der Dreifachmörder nicht nach Bulgarien zurücküberstellt werden konnte, wo er zunächst Asyl beantragt hatte. Jüngst musste sie einräumen, dass NRW derzeit von 34 ausreisepflichtigen Gefährdern nur einen abschieben kann. In Bonn will sie aus der Defensive kommen.
Eine Frage, die sich nach Solingen auch immer wieder stellte, war: Wieso ist die radikale Gesinnung von al-Hasan nicht frühzeitig aufgefallen? Es ist eine Frage, die auch nach dem Anschlag von Berlin gestellt wurde, bei dem der Tunesier Anis Amri am 19. Dezember 2016 einen Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt steuerte und 13 Menschen ermordete.
Paul: „Projekt leistet wertvolle Arbeit im Bereich der Radikalisierungsprävention“
Josefine Paul hofft, dass über das Projekt „Grenzgänger“ bereits in den Landeseinrichtungen islamistische Radikalisierung frühzeitig erkannt und gestoppt werden kann. Seit 2022 wird das Projekt zur Hälfte mit Mitteln des Landes finanziert. „Das Projekt Grenzgänger leistet sehr wertvolle Arbeit im Bereich der Radikalisierungsprävention“, sagt die Ministerin. Sie will es weiterentwickeln.
In Bonn stellt es nach der Führung durch die Unterkunft der Projektverantwortliche Alexander Gesing vom Bochumer Trägerverein „IFAK“ vor. Das Programm hat drei Säulen: Schulung und Sensibilisierung von Mitarbeitern, Sprechzeiten für alle Menschen in der jeweiligen Unterkunft und die Beratung in konkreten Fällen. Man müsse unterscheiden zwischen „gelebter Religiosität“ und Einstellungen, die gefährlich sind. Wo es gefährlich oder gefährdend wird, werden Experten von „Grenzgänger“ aktiv.
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Zunächst durch die Ansprache von Menschen, die sich möglicherweise radikalisiert haben oder die bereits mit einer radikalen Einstellung nach NRW gekommen sind: „Radikalisierung ist ein sozialer Prozess. Deradikalisierung auch“, sagt Gesing. In Gesprächen mit Betroffenen gehe es dann darum, „Bedürfnisse zu identifizieren und Alternativen anzubieten“. Hat sich ein Mensch aus familiären Gründen radikalisiert? Weil er sich in seiner Ehre gekränkt fühlt? Spielen psychische Probleme eine Rolle? Gegebenenfalls verweisen die Experten des Projekts an weitere Stellen weiter, etwa, wenn sie die Notwendigkeit psychosozialer Betreuung sehen. Notfalls schalten sie aber den Staatsschutz ein.
„Die Präventionsarbeit ist elementar wichtig, um betroffene Personen und unsere Gesellschaft vor islamistischem Extremismus zu schützen“, sagt die Flüchtlingsministerin. Sie sei deswegen eine „wesentliche Säule“ des Maßnahmenpakets, das die Landesregierung nach dem Anschlag von Solingen verabschiedet hatte. Wie groß das Problem radikalisierter Flüchtlinge ist, wird in Bonn allerdings nicht klar. Es habe in diesem und im Vorjahr Falleingänge gegeben, berichtet Gesing. Wie viele genau, sagt er aber nicht.