Düsseldorf. Wut und Trauer: Der Anschlag dürfte in NRW die Debattenlage zu Asyl und Islamisten-Überwachung nachhaltig verändern.
Es schien fast eine dunkle Vorahnung zu sein. An diesem Mittwoch wollte NRW-Innenminister Herbert Reul seine neue Landesstatistik zur „Messer-Gewalt“ vorstellen und weitere Gegenmaßnahmen präsentieren. Schon häufiger gab der CDU-Mann zu verstehen, dass die Debatte über Klingenlängen und Verbotszonen am eigentlichen Problem vorbeigehe. Zur gefährlichen Waffe werde das Messer erst in den falschen Händen. Wen Reul damit genau meinte, weiß seit dem blutigen Freitagabend von Solingen jeder in Deutschland.
Zuletzt musste das Innenministerium bereits eine dramatische Entwicklung bei Messerstraftaten in NRW bilanzieren. Demnach war die Zahl der Messerattacken 2023 gegenüber dem Vorjahr um fast 50 Prozent gestiegen. Die fast 5700 ermittelten Tatverdächtigen waren mehrheitlich jung, männlich und: hatten überproportional häufig Migrationshintergrund.
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Seit geraumer Zeit erprobte NRW gezielte Waffentrageverbote für polizeibekannte Gewalttäter. Die Verbotsverfügungen müssen persönlich durch Polizisten überreicht und möglichst mit einer Gefährderansprache verbunden werden.
NRW erprobte gerade erst Messertrageverbote für bekannnte Gefährder
Das Polizeipräsidium Dortmund hatte als erste Behörde in NRW mit einer eigenen Task-Force insgesamt 433 potenzielle Gewalttäter identifiziert, die für ein Waffentrageverbot in Frage kommen, darunter allein 131 unter 21 Jahren. Reul hatte Waffentrageverbote als „flankierende Maßnahme“ vorgestellt, um der wachsenden Messergefahr zu begegnen. In den landesweit vier „Waffenverbotszonen“ - etwa in der Düsseldorfer Altstadt oder an Feier-Hotspots in Köln - hat die Polizei größere Kontrollbefugnisse.
Das alles nützt jedoch nichts, wenn ein Attentäter wie in Solingen weder ein polizeibekannter Gefährder ist, noch der Tatort zu den bekannten Gefahrenorten gerechnet werden musste. Ein alter Hase im politischen Geschäft wie der bald 72-jährige Reul kann sich deshalb leicht ausrechnen, dass Solingen zur Kernschmelze zweier ganz anderer Debatten werden dürfte: Die allen Ankündigungen zum Trotz weiterhin liberale deutsche Asylpolitik und die geringen Überwachungsbefugnisse der Sicherheitsbehörden stehen jetzt wohl so sehr zur Disposition wie seit dem Berliner Weihnachtsmarkt-Anschlag 2016 nicht mehr.
„Die Leute verstehen das einfach nicht mehr“, hatte Reul zuletzt immer wieder von seinen Bürgerbegegnungen berichtet. Damit meinte er zum Beispiel den Umstand, dass es Bund und Ländern noch immer nicht gelinge, Syrer in ihre Heimat abzuschieben. Dabei hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster Mitte Juli in einem bundesweit beachteten Urteil einen Weg aufgezeigt. Geflüchteten Syrern drohten keine Bürgerkriegs-Gefahren mehr in der Heimat. Reul begrüßte das Urteil flugs als „Klarheit, die die Politik bisher vermissen ließ“. Es sei ein wichtiges Signal für die Ausländerbehörden.
Werden neue Abschiebemöglichkeiten nach Syrien nicht entschlossen genutzt?
Seine für Migration zuständige grüne Kabinettskollegin Josefine Paul warnte dagegen davor, eilige Schlüsse aus dem Urteil zu ziehen. Eine Auswirkung auf die Asylverfahren sei noch nicht absehbar, bremste sie. Unmittelbare Auswirkungen für Syrer, denen schon ein Schutzstatus zuerkannt wurde, habe das Urteil nicht.
Nach Solingen dürfte der Druck, bei Abschiebungen endlich voranzukommen, auch in der NRW-Landespolitik extrem steigen. „Es ist unerträglich, dass ein Asylmigrant, der in Deutschland Schutz und Sozialleistungen erhalten hat, sich dann mit brutalster Messergewalt gegen unsere freie Gesellschaft wendet“, sagte FDP-Innenexperte Marc Lürbke am Sonntag und setzte damit den Ton in Düsseldorf. Solingen müsse „ein Wendepunkt in der Asylpolitik hin zu endlich mehr Steuerung, echter Kontrolle und klarer Konsequenz sein“, so Lürbke
Tatsächlich dürften mögliche Behördenversäumnisse im Umgang mit dem Attentäter die nächsten Tage bestimmen. Wie „Die Welt“ rasch ermittelt hatte, soll es sich bei dem Syrer um einen Mann gehandelt haben, der längst außer Landes hätte sein sollen. Er habe 2022 einen Asylantrag in Bielefeld gestellt, obwohl er über Bulgarien in die EU eingereist war. Als er Anfang 2023 dorthin zurückgeführt werden sollte, tauchte er unter - und erst dann wieder in NRW auf, als die sogenannte Übermittlungsfrist nach Bulgarien abgelaufen war. Fortan genoss er in NRW wieder Schutz.
Überwachung von Islamisten im Netz: Fähigkeitslücke der deutschen Behörden
Ebenso dürfte die Machtlosigkeit des Sicherheitsapparats gegenüber der ansatzlosen Radikalisierung von Einzeltätern in den Fokus rücken. Aktuell sind in NRW rund 2600 extremistische Salafisten nachrichtendienstlich bekannt, davon 600 dem gewaltorientierten Spektrum zuzuordnen. Vor allem in den Ballungsräumen der Rheinschiene um Köln und Bonn sowie Düsseldorf und Mönchengladbach oder im Ruhrgebiet zwischen Dortmund und Essen sind sie vernetzt. Es gibt eine Vielzahl an radikalen Organisationen und Vereinen.
Anders als noch vor wenigen Jahren stehen in der direkten Beobachtung nicht mehr allein die NRW-weit rund 14 islamistisch beeinflussten Moscheen im Fokus der Verfassungsschützer. Gefährlicher erscheinen längst Einzeltäter ohne Anbindung an Terrorgruppen, die sich durch Online-Inhalte radikalisieren und kaum zu erfassen sind. Vor allem Jugendliche werden von populären Predigern rund um die Uhr über die Sozialen Netzwerke geködert.
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Das Netz sei mehr und mehr „ein Hochleistungsmotor für Radikalisierung“ – so hat es Reul mal formuliert. Das Handy sei „die Radikalisierungsmaschine in der Hosentasche“. Die Verfassungsschützer sehen mit Sorge die weiterhin bestehende „Fähigkeitslücke deutscher Sicherheitsbehörden“. Etliche Anschläge konnten in der Vergangenheit nur deshalb verhindert werden, weil ausländische Geheimdienste rechtzeitig Chatnachrichten abgefangen haben und der Bundesrepublik einen Warnhinweis gaben.
In Deutschland verhindert der Datenschutz, dass Nutzerinformationen von Handy-Providern über einen längeren Zeitraum gesichert werden. Obwohl die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung seit Jahren fruchtlos geführt wird, will Reul die Abhängigkeit von der Kooperationsbereitschaft anderer Geheimdienste verringern und wirbt unverdrossen um neue rechtliche Möglichkeiten seiner Ermittler. Die offenbar unbemerkte Radikalisierung des Attentäters von Solingen hat den Handlungsdruck nun dramatisch erhöht.