Solingen. Nach dem Brandanschlag von 1993 ist die Stadt zu einem Beispiel für Integration und Miteinander geworden. Wie geht es weiter?

Montagabend in Solingen. Rechtsextremisten ziehen durch die Stadt, sie grölen „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Linke stellen sich ihnen entgegen, es wird laut, unruhig, es kommt zu Rangeleien mit der Polizei. Die Toten des Terroranschlags von Freitagabend sind noch nicht beerdigt. Sie werden aber schon politisch vereinnahmt und instrumentalisiert. Als wäre Solingen nicht schon verletzt und verstört genug, wird jetzt von außen Hass und Hetze in die Stadt getragen. Erinnerungen werden wach an eine andere Terrorattacke, die Solingen und ganz Deutschland vor dreißig Jahren erschütterte. Der Brandanschlag von 1993 ist tief im städtischen Bewusstsein verankert.

Am 29. Mai wird Josef Neumann mitten in der Nacht von einem Telefonanruf geweckt. Es brennt an der Unteren Wernerstraße. Neumann, damals Gewerkschaftssekretär bei der ÖTV, fährt frühmorgens zu der Unglücksstelle. Er sieht das verkohlte Dach des Hauses, wie die Feuerwehr die Toten herausträgt. „Diese Bilder habe ich bis heute im Kopf.“ Bei dem Feuer sterben fünf türkische Mädchen und Frauen, 17 weitere Angehörige der Familie Genc werden zum Teil schwer verletzt. Es dauert nicht lange, bis klar ist: Sie sind einem Anschlag von Rechtsextremen zum Opfer gefallen.

Nach dem Brandanschlag kommt es zu Demos und Krawallen

Die Mordtat ist der furchtbare Höhepunkt einer ganzen Serie rechtsextremer Gewalttaten am Beginn der neunziger Jahre. Ein Jahr zuvor waren in Mölln in Schleswig-Holstein drei Menschen bei einem fremdenfeindlichen Anschlag gestorben. Nach dem Brandanschlag wird Solingen Schauplatz von heftigen Ausschreitungen und Krawallen. Rechtsradikale Türken liefern sich brutale Straßenschlachten mit kurdischen Linken und deutschen Autonomen. Die Terrorattacke ist aber auch Ausgangspunkt für das beispielhafte Zusammenwachsen der städtischen Zivilgesellschaft.

Mevlüde Genc, Mutter, Großmutter und Tante der Todesopfer ruft wenige Tage nach der Mordtat zur Versöhnung auf. „Das war eine sehr wichtige, eine sehr entscheidende Botschaft“, sagt Josef Neumann, der heute als SPD-Abgeordneter im Düsseldorfer Landtag sitzt. In den Jahren darauf gründen sich in der Stadt viele Initiativen und Vereine, die sich um das Miteinander von Zuwanderern und Einheimischen bemühen. Aus Solingen gehen Integrations-Impulse ins ganze Land. Die Stadt erklärt sich vor wenigen Jahren zum „Sicheren Hafen“. Flüchtlinge sind hier willkommen.  

Die schlimmen Nachrichten in Solingen hören nicht auf

Vor dem Berufskolleg steht an der Beethovenstraße ein Mahnmal, das an die Tragödie von 1993 erinnert. Das Fundament bilden Tausende Metallringe, in die Menschen und Organisationen ihre Namen graviert haben. Ein Symbol des Zusammenhalts. Die Terrorattacke von Freitagabend, verübt von einem Syrer ausgerechnet gegen Menschen, die das Fest der Vielfalt besuchten, stellt die Zivilgesellschaft in Solingen vor eine Zerreißprobe. Wie weiter?

Zumal in jüngster Zeit so viel schlimmes geschehen ist. Im März sterben vier Mitglieder einer bulgarischen Familie bei einem Brand, den vermutlich ein ehemaliger Mieter gelegt hat, im Juni kommt ein Mann ums Leben, als ihm auf der Konrad-Adenauer-Straße eine Brandflasche aus der Hand fällt und explodiert. Es ist, als hörten die furchtbaren Nachrichten nicht auf.

Ein Blumenmeer an der Stadtkirche in Solingen, nicht weit entfernt von dem Ort des Anschlags vom Freitagabend.
Ein Blumenmeer an der Stadtkirche in Solingen, nicht weit entfernt von dem Ort des Anschlags vom Freitagabend. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Am Sonntag steht Anna Schlur, Mitte siebzig, an dem Blumenmeer vor der Stadtkirche, die am Fronhof liegt, dem Platz, auf dem am Freitagabend drei Menschen ermordet und acht weitere verletzt wurden. Sie lebt in der Unteren Wernerstraße, sie kennt die Familie Genc. „Es gibt immer mehr Hass“, sagt sie mit tränenerstickter Stimme. „Es tut mir so leid um all die Bemühungen für Frieden. Die Stadt hat das nicht verdient.“ Ihr Friseur sei Syrer. „Auch für ihn tut mir das so leid.“

Die evangelische Superintendentin Ilka Werner hält an diesem Morgen im Trauergottesdienst eine ergreifende Predigt, in der sie sagt: „Die Messerattacke hat uns in eine andere Welt geschleudert“, und in der sie von der Ratlosigkeit und der Verzweiflung spricht, die sich jetzt breit gemacht hat. Vor der Kirche sagt sie später, die Zivilgesellschaft in Solingen sei als Folge des grauenhaften Anschlags von 1993 sehr gut vernetzt, man helfe sich gegenseitig. „Sie kann uns aber nicht vor so etwas schützen.“ Werner glaub, dass die Stadtgesellschaft den Schmerz aushalten wird. „Aber es wird verdammt hart.“

Journalist Preuss: „Wir protestieren nicht, wir trauern“

Auch der Journalist Uli Preuss, 69, glaubt daran, dass die Zivilgesellschaft in Solingen nicht zerbrechen wird. „Wir gedenken seit dreißig Jahren der Opfer des Brandanschlags und wir werden der Opfer der Terrorattacke von Freitag gedenken.“ Preuss hat den Verein „Solingen hilft“ mitbegründet, der in Griechenland Flüchtlinge unterstützt, Hilfstransporte in die Ukraine fährt, aber auch in der Stadt selbst bedürftigen Menschen zur Seite steht. Er kennt viele der Opfer vom Freitagabend.

Es macht ihn wütend, sagt er, dass jetzt Fremdenfeinde die Terrorattacke, die Toten und die Verletzten für ihre Hetze gegen Zuwanderer und Flüchtlinge instrumentalisieren wollen. Er ahnt, dass die Proteste der Rechten am Sonntag und Montag nicht die letzten gewesen sein werden. Kleinbeigeben will Preuss aber nicht: „Wir lassen uns von Rechtsextremisten nicht vorschreiben, wie wir zu leben haben. Wir protestieren nicht. Wir trauern.“  

Die Traumatisierung ist enorm, weiß Josef Neumann. Zugleich erreichten ihn viele Nachrichten von Bürgern der Stadt. „Sie sagen mir, wir lassen uns nicht unterkriegen. Und wir haben ja keine Alternative. Wir müssen das packen.“

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