Essen. Beim Solinger Anschlag sterben drei Menschen, acht werden verletzt. Kollegen, Vereinsfreunde und Familien über die Opfer des Anschlags
- Am 23. August will die Stadt Solingen mit einem großen „Festival der Vielfalt“ ihr 650-jähriges Bestehen feiern. Vor einer der Bühnen kommt es um 21:37 Uhr zum Tumult: Ein Mann sticht offenbar wahllos auf Menschen ein.
- Drei Menschen sterben, acht weitere werden verletzt. Die Terrororganisation IS reklamiert die Tat für sich. Am 24. August spätabends wird der mutmaßliche Täter festgenommen.
- Freunde und Bekannte sprechen über die Opfer des Anschlags - auch in den USA.
Am Sonntag nach der Tat haben sie sich in ihrer Halle beim Ohligser Turnverein getroffen. Aber nicht wie sonst, um Sport zu treiben. Sie haben gemeinsam geweint, geredet, den Gefühlen Raum gelassen. Der Turnverein im Westen von Solingen trauert um ein Mitglied, drei weitere Sportler wurden bei dem Messerattentat schwer verletzt.
Das Todesopfer, eines von dreien der schrecklichen Tat von Freitagabend, war Mitglied der Kanuabteilung. Die 56-jährige Mutter eines erwachsenen Sohnes engagierte sich offenbar sehr für den Verein, der auch Badminton, Schwimmen oder Schach anbietet – unter anderem als Festwartin.
„Dass gerade sie, der Integration so sehr am Herzen lag, auf diese Weise sterben musste, ist kaum zu fassen und einfach nur entsetzlich.“
Und nicht nur dort: Vereinskameraden, Freunde, aber auch berufliche Wegbegleiter kannten sie als Streiterin für Integration. Nach Informationen dieser Redaktion war sie Mitglied in einem Bürger- und Kulturverein in ihrem Stadtteil Ohligs, der sich besonders um Minderheiten und Vielfalt bemühte.
Verein trauert um 56-Jährige: „Einfach nur entsetzlich“
Der Verein „Waldmeister e.V.“, der sich selbst „Kulturelles Selbstversorgungsamt Solingen“ nennt, veröffentlichte eine Traueranzeige für die „Toten, die bei dem schändlichen Attentat vom 23. August 2024 in Solingen ihr Leben verloren“. Die 56-Jährige wird darin als Vereinsmitglied namentlich genannt. In der Satzung steht unter anderem dies: Man verpflichte sich „besonders den Werten der Menschenrechte: Freiheit, Gleichheit und Vielfalt“, beziehe klar „Stellung gegen jede Form von Gewalt, Intoleranz, Ungleichheit und Diskriminierung“.
Messerattacke in Solingen: Die Bilder vom Tatort
Eine Bekannte der 56-Jährigen sagt: „Dass gerade sie, der Integration so sehr am Herzen lag, auf diese Weise sterben musste, ist kaum zu fassen und einfach nur entsetzlich.“ Am Freitagabend war in Solingen kein gewöhnliches Stadtfest gefeiert worden: Mit einem „Festival der Vielfalt“ hatte die Stadt ihren 650. Geburtstag feiern wollen.
Die, die die 56-Jährige kannten, beschreiben sie gegenüber dieser Redaktion als „positiv, besonders nett und freundlich“. Das bestätigt auch eine Arbeitskollegin der Frau. Ihr zufolge hat die studierte Pharmazeutin, die aus Ostdeutschland nach Solingen gekommen war, als angestellte Apothekerin in Apotheken der Stadt gearbeitet. Auch die Apothekerkammer schaltete eine Traueranzeige im Netz für die „geschätzte Kollegin“. Sie habe ihr Berufsleben „mit Hingabe der Gesundheit und dem Wohl der Menschen in der Region“ gewidmet.
„Wir sind fassungslos, haben dafür keine Worte“, sagte die stellvertretende Vorsitzende des Turnvereins OTV, Beate Globisch, dem Solinger Tageblatt. „Für die kleine Abteilung ist das ein Drama. Hier geht es zu wie in einer Familie.“
Unter den Verletzten: Der Ehemann, eine Mutter und ihre Tochter
Auch der Ehemann der 56-Jährigen, ebenfalls im Vorstand der Kanuten aktiv, ist bei dem Terrorakt schwer verletzt worden. Laut Verein sei der IT-Spezialist inzwischen wieder aus dem Koma erwacht, habe bei der Polizei eine detaillierte Zeugenaussage gemacht.
Er hatte sich auf das Festival gefreut. In einem Post zum Programm schrieb er vorab: „Fahrplan für heute Abend und auch morgen Abend.“ Das war wenige Stunden, bevor er zum Fronhof aufbrach. Ein „Morgen“ gab es für seine Frau nun nicht mehr.
Unter den Verletzten, die mittlerweile alle außer Lebensgefahr sind, sind offenbar auch eine Mutter und ihre Tochter, die in einem Krankenhaus in Wuppertal behandelt werden. Andere wurden nach Remscheid verlegt. Beate Globisch, die stellvertretende Vorsitzende des Ohligser Turnvereins, vermutet, dass sich die verletzten Mitglieder und die 56-Jährige auf dem Stadtfest in Solingen nur zufällig getroffen hätten.
Menschen aus Solinger Musik- und Eventszene unter den Opfern
Auch „Cobra“, ein soziokulturelles Zentrum in der Stadt, fühlt mit den Opfern, unter denen offenbar auch Menschen aus der Solinger Musik- und Eventszene sind. Auf Facebook heißt es, ein Vorstandsmitglied des Cobra Clubs und Gäste der Einrichtung seien betroffen.
„Wir empfinden tiefe Trauer für die Toten, großes Mitgefühl für ihre Angehörigen und wünschen allen Verletzten schnelle körperliche, aber auch seelische Heilung“, postete das Zentrum. Weiter dazu äußern wollte sich aus dem Umfeld des Clubs am Montag niemand.
Ein 56-Jähriger aus Düsseldorf, der in Solingen getötet wurde, war am Tattag möglicherweise ebenfalls wegen der Musik in der Stadt geblieben, in die er sonst zum Arbeiten kam. Wie die Bild-Zeitung schreibt, war der Mann als „rockiger Typ“ bekannt, der selbst Gitarre spielte.
67-Jähriger brachte seinen ehemaligen Kollegen in Wuppertal regelmäßig Kuchen
Auch in Wuppertal wird getrauert: Bei den Kalkwerken Oetelshofen vermissen die Mitarbeiter einen ehemaligen Kollegen - den 67-jährigen Solinger, der am 23. August ebenfalls getötet wurde.
Nach beinahe drei Jahrzehnten bei den Kalkwerken sei er auch nach seiner Verrentung alle paar Monate mit Kuchen vorbeigekommen, erzählt ein Kollege der „Rheinischen Zeitung“. Die Belegschaft erinnert sich an einen gebildeten, liberalen Menschen, der durchaus streitbar gewesen sei. Er habe alte Straßenbahnen und das Billardspiel Snooker geliebt, sei im Urlaub gerne mit Frachtschiffen um die Welt gereist.
In einem Nachruf schreibt die Geschäftsführung von Oetelshofen: „Du warst uns Kollege und Freund zugleich und ein Mensch, der über den Tellerrand hinausgeschaut und Werte wie Offenheit und Toleranz gelebt hat. Dass du bei einem friedlichen Fest durch einen niederträchtigen Angriff tödlich verletzt wurdest, macht uns fassungslos, wütend und traurig.“
Sozial, bescheiden, liebenswert: Trauer um Solinger auch in den USA
Andere Weggefährten aus Solingen sprechen gegenüber lokalen Medien von einem „sozialen, bescheidenen, anständigen und ganz liebenswerten Menschen“. Sogar bis in die USA zieht sich die Trauer um den 67-Jährigen: Auf Instagram schreibt die Solingerin Anna Lynn Dolman, die inzwischen in Kalifornien lebt, über ihn als „Solinger Urgestein“.
Der Mann sei vor einigen Jahren ein Teil ihrer Familie geworden, „der Freund meiner Tante, die es ziemlich schwer hat in diesem Leben und um die er sich aufopferungsvoll gekümmert hat“, so Dolman bei Instagram. Sie beschreibt ihn als jemanden, der viel gereist sei und „fast schon unverhältnismäßig viel Freude an den kleinen Dingen des Lebens“ hatte. Er „hatte einen angenehm festen Handschlag, verdammt lange Beine, einen leicht wippenden Gang und hat meistens St.-Pauli-Fanklamotten getragen.“
Unter den Verletzten: Iraner blickt Täter „direkt in die Augen“
Auch Siavash Hosseini war in Solingen, mitten in dem Tumult, der nach dem Angriff am Freitagabend vor der Musikbühne am Fronhof in der Solinger Innenstadt ausgebrochen war. Hosseini war aus Köln nach Solingen gefahren, um dort einen schönen Abend zu verbringen – er gehört zu den acht Menschen, die bei dem Anschlag verletzt worden sind.
Der gebürtige Iraner ist vor der Bühne auf dem Fronhof, als dort der Täter mit einem Messer Menschen gezielt in den Hals sticht. Hosseini wird im Nacken getroffen und schwer verletzt, so erzählt er im Interview mit dem WDR. „Alles ist in weniger als 15 Sekunden passiert“, sagt der Kölner dem Fernsehsender. Niemand habe reagieren können, dafür sei alles viel zu schnell gegangen.
Hosseini ist erst vor einem Jahr aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet. Er hat inzwischen eine Ausbildung als Mechatroniker begonnen. Kurz vor dem Anschlag habe er mit seinem Handy noch ein Video von dem Konzert auf der Bühne gemacht. Dann brach das Chaos aus: Er habe dem Täter direkt in die Augen gesehen, sagt der Iraner dem WDR, dann sei er direkt auf ihn zugekommen. Er habe sich noch wegdrehen können. Trotzdem trifft ihn das Messer im Nacken und hinterlässt eine tiefe Schnittwunde.
Hosseini wird mit den anderen Verletzten ins Krankenhaus gebracht und mit 21 Stichen genäht. „Ich bin ganz glücklich“, meint er heute. Er sei am Leben. „Ich könnte einer der getöteten Menschen sein.“
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