Almere. Flevoland gibt es erst seit wenigen Jahrzehnten. Eine Reise in eine niederländische Provinz, die viel zu bieten hat – außer Geschichte.
Hollands wilder Westen beginnt eine gute halbe Autostunde hinter Amsterdam. Flevoland: Eine ganze Provinz, dem Meer mühselig abgetrotzt. Endlos erscheinende Felder. Wuchernde Wiesen, auf denen Wildpferde grasen. Inmitten dieser Prärie geschichtslose Reißbrettstädte, die in den 1970er- und 80er-Jahren aus dem trockengelegten Meeresboden gestampft wurden. Muss man das gesehen haben oder dürfen Touristen Flevoland links liegen lassen? Das wollen wir herausfinden. Drei Tage unter niederländischen Pionieren dies- und jenseits der A6. Auf geht‘s.
Erster Tag: Reise in die Stille
Die Fahrt nach Almere – die mit Abstand größte von sechs Städten Flevolands – war entspannt, das Auto verschwindet zur Feierabendstunde in einer Tiefgarage. Erster Eindruck: Stille, es gibt kaum Verkehr. Nach dem Einchecken im Hotel ist es Zeit fürs Abendessen. Immer geradeaus durch die Fußgängerzone. Kurz vor dem Grote Markt wetteifern asiatische Restaurants um Gäste. Die Entscheidung fällt zugunsten eines Indonesiers. Ein Tisch draußen, ein warmer Sommerabend. Danach hätten wir gerne einen Absacker.
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In der Stadt scheint nicht so wahnsinnig viel los zu sein. Zum Glück gibt es direkt neben dem Hotel einen Laden mit dem richtungweisenden Namen „Bierfabriek“. Warum nicht?
Zweiter Tag: Niederländische Safari
Der Tag beginnt mit einer Fahrt nach Lelystad, die Hauptstadt Flevolands. Dort am Seeufer des sogenannten Markermeers liegt „Batavialand“, ein Museumskomplex, in dem sie die Geschichte dieser jungen Provinz erzählen: Wie kräftige und technisch versierte Wegbereiter einen langen Deich bauten, um das Meer zurückzudrängen. Wie sie im Schlamm der Polder insgesamt 449 Schiffswracks aus früheren Zeiten fanden. Wer Flevoland verstehen will, muss hierher kommen.
Neben dem Museum liegt ein hölzernes Segelschiff im Wasser. Ein Nachbau der von der Niederländischen Ostindien-Kompanie eingesetzten „Batavia“, die 1629 vor Australien sank und wegen des dramatischen Überlebenskampfs der Besatzung zur nationalen Legende geworden ist. „340 Menschen lebten auf dem Schiff“, sagt „Batavia“-Experte Eric van der Vliet, der seit acht Jahren für das Museum arbeitet, bei einem Rundgang über die historische Kopie. „Es war wahnsinnig eng und unbequem. Unter Deck kann man nicht aufrecht stehen. Die meisten Mannschaftsmitglieder, Passagiere und Soldaten teilten sich zwei Toiletten. Nur der Kapitän und seine Führungscrew hatten einen eigenen WC-Außensitz.“
Es wird Zeit fürs Mittagessen. Nebenan lockt ein Outletzentrum. Fastfoodrestaurants und Klamottengeschäfte. Es gibt Besucher, die kommen nur zum Bummeln und haben sich noch nie in der Umgebung des Outlets umgeschaut, berichtet van der Vliet. „Manchmal, wenn ich erzähle, dass ich in ,Batavialand‘ arbeite, sagen die Leute: ,Wie nett, das ist ein schönes Einkaufszentrum.“ Die Shoppinglaune hält sich in Grenzen. Eine Portion Pommes muss sein.
Am Nachmittag geht die Expedition ins neue Land weiter – und zwar im Nationalpark Nieuw Land. Eine huttragende Rangerin im Khakidress steuert den Geländewagen über schmale Wege, vorbei an aus einer Wasserstelle trinkenden Heckrindern und einem aufsteigenden Seeadler, bis eine Herde wild lebender Konik-Pferde den Pfad versperrt. Im Schritttempo geht es an den zaghaft zurückweichenden Huftieren vorbei. Fühlt sich an wie eine afrikanische Safari. Nur der vorbeirauschende Regionalzug nach Amsterdam holt Besucher gedanklich wieder aus Namibia nach Holland.
Abends zurück nach Almere. Zu erschöpft für lange Erkundungsgänge. In der „Bierfabriek“ ist ein Tisch frei. Was heißt eigentlich „Prost“ auf Niederländisch? Ach ja: Prost!
Dritter Tag: Unterwegs in einer Musterstadt
Almere ist die einzige Großstadt Flevolands. 1970 hatte die Siedlung ganze 52 Einwohner, heute sind es mehr als 225.000. Am Stadtrand ragen Kräne in den Himmel, dort entstehen Zehntausende weitere Häuser. In zehn Jahren, haben die Stadtmütter und -väter entschieden, sollen in Almere 300.000 Menschen wohnen. Das einstige Kaff in der Ödnis ist eine der am schnellsten wachsenden Städte Europas. Um sie zu begreifen, braucht es jemanden, der sich auskennt. Jemanden wie Paul Meekel.
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Der 64-Jährige mit penibel gestutztem Vollbart und gewitzten Augen kennt Almere wie seinen Vorgarten. Früher arbeitete er in der Finanzbranche, heute führt er Touristen durch seine Wahlheimat. Er läuft vorbei an von japanischen und französischen Architekten entworfenen Prestigegebäuden, schwärmt von der hypermodernen Stadt und verschweigt nicht ihren großen Makel – die Geschichtslosigkeit.
„Ich bin älter als die Stadt, durch die ich führe“, scherzt Meekel, der 1958 in Amsterdam geboren wurde. Er erinnert sich an die Diskussionen: „Als die Regierung Pläne für eine neue Stadt namens Almere vorstellte, waren die Leute skeptisch. Sie fragten sich, wer in einem Ort ohne Theater, Kino und Kneipen leben wollen würde. Aber in Almere konnte man für wenig Geld ein Haus bauen, während viele Menschen in Amsterdam damals in sehr beengten Verhältnissen lebten. So kamen immer mehr Menschen nach Almere.“
Eine futuristische Musterstadt auf drei Ebenen: Während sich auf den begrünten Flachdächern Gärten und kleine Parks befinden, verläuft der Verkehr großteils unterirdisch. Fahrschüler dürfen in Almere keine Praxisprüfung ablegen – weil die Stadt zu sicher ist.
Paul Meekel zog vor 22 Jahren her. Damals gab es kein nennenswertes Zentrum, Almere war eine Schlafstadt für Amsterdam-Pendler. „In den letzten Jahren hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass die Stadt auch Lebensqualität bieten muss“, sagt Meekel. Es entstanden Geschäftszeilen, Restaurants, eine Stadthalle. Eine City, die alles bietet, außer besonderen Charme.
„Würden Sie hier gerne leben?“, fragt Meekel. Er ja, versichert der euphorische Stadtführer, er wolle nicht mehr weg. Ein Umzug ins betuliche Flevoland muss nicht sein. Aber drei Tage in Hollands wildem Westen – gerne wieder.