Lelystad. . Lelys genialer Plan: Die Flut-Katastrophe in den Niederlanden vor 100 Jahren führte zur Eindämmung des Ijsselmeers und zur Polderung großer Flächen
In der Nacht zum 14. Januar 1916 peitscht ein eisiger Südwest-Sturm über die Niederlande. Der Wind türmt die Wellen der Zuiderzee haushoch auf. Heftiger Regen ergießt sich über weite Teile des Landes. Deiche brechen. Das Wasser hat freie Bahn, stoppt erst kurz vor den Toren von Amsterdam. Dutzende Menschen verlieren in dieser Nacht ihr Leben. „So etwas darf nie wieder geschehen“, sagte damals der zuständige Minister für Wasserschutz, Cornelis Lely.
Der ausgebildete Wasserbauingenieur hatte eine große Vision: Die Zuiderzee sollte eingedämmt werden. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte Lely einen Plan entwickelt. Bis dahin fehlten Technik, Geld und auch politischer Wille. Das war nach der Jahrhundertflut von 1916 anders. Sie war Anlass für das bis dahin größte Polderprogramm in der Geschichte der Niederlande. Der südliche Teil der Nordsee, der wie ein Stachel tief in das Zentrum des Landes hineinragte, sollte trockengelegt werden.
12 Jahre Arbeit am Abschlussdeich
Kernstück war der „Afsluitdijk“, der Abschlussdeich, der die nördlichen Provinzen Friesland und Nord-Holland miteinander verbinden sollte. 1920 begannen die Arbeiten, und am 28. Mai 1932 war es soweit: Die Zuiderzee war vollständig von der Nordsee abgeschlossen. Durch den 32 Kilometer langen Deich wurde aus dem einstigen Meer ein Süßwasser-See und Seglerparadies, das Ijsselmeer.
Das war nicht alles. Auch fruchtbares Ackerland sollte gewonnen werden. Mit einem ausgeklügelten System von Pumpen, Kanälen und Mühlen wurden große Teile trocken gelegt. Polder entstanden - drei Meter unter dem Meeresspiegel. Genau vor 30 Jahren, am 1. Januar 1986 wurden diese Polder offiziell zur 12. Provinz des Landes erklärt: Flevoland.
Zuvor aber wurden junge Ehepaare aus dem ganzen Land ausgewählt, um das Land zu bebauen und bewohnbar zu machen. „Es waren echte Pioniere", sagt die Amsterdamer Lehrerin Janneke Visser. Ihre Großeltern gehörten dazu. „Für sie war der Polder das gelobte Land. Den Pionieren folgten viele Tausende Niederländer. Aus den Großstädten wie das nahe gelegene Amsterdam zogen junge Familien in die neue Provinz. Denn hier gab es etwas, was in dem am dichtesten besiedelten Land Europas Mangelware ist: Platz.
Das neues Land hat den Glanz verloren
Heute hat Flevoland viel von seinem jugendlichen Glanz verloren. „Das neue Land ist kein Magnet mehr", ergab eine Studie des Statistik-Amtes. Rund 400 000 Einwohner zählt die Provinz heute, doch gerade junge Leute ziehen wieder zurück ins alte Land. Ursprünglich war es vorgesehen, das Markermeer gegenüber des Flevopolders trockenzulegen. Doch vor 25 Jahren gab die niederländische Regierung diesen Plan auf. Kein Bedarf!
Dennoch ist Flevoland ein Paradies. Ausgerechnet auf diesem neuen Land unter dem Meeresspiegel entstand eine einzigartige Wildnis: die Oostvardersplassen. Mehr oder weniger durch Zufall. Als das große Zuiderzee-Projekt Ende der 1960er Jahre abgeschlossen war, verwandelte sich ein ursprünglich für Industrieansiedlungen vorgesehenes Gebiet südlich von Lelystad in eine Sumpflandschaft. Gut fünfeinhalbtausend Hektar wurden der Natur überlassen. Heute rennen dort Wildpferde über die Steppe, Heckrinder grasen auf einer Lichtung, an einem See tauchen Rehe und Hirsche auf. Ein Fuchs schleicht am Waldrand, und über dem Wasser kreist ein Seeadler. „Es ist wie Afrika, bloß nicht so heiß", spöttelt Förster Breeveld. Er begleitet Besucher auf einer Safari durch die „Oostvaardserplassen“. Das einzigartige Naturgebiet wurde durch den Kinofilm „Die neue Wildnis" international bekannt.
An die Schrecken der Zuiderzee erinnert heute kaum noch etwas. Nur ganz im Norden des Polders ragen zwischen Weiden und Feldern Ruinen empor. Ein Kirchturm, Mauern - die Reste der ehemaligen Insel Schokland. Jahrhundertelang kämpften deren Bewohner gegen die Fluten. 1859 war der Kampf verloren. Die Insel wurde aufgegeben. Nun liegt Schokland mitten auf dem Land und gehört zum Weltkulturerbe der Unesco, als Symbol für den Kampf gegen das Wasser.
Der Kampf geht weiter
Dieser Kampf aber ist nicht vorbei. Im Gegenteil. Nun bedroht der Klimawandel die Niederlande. Der Abschlussdeich kann dem steigenden Meeresspiegel nicht standhalten und muss verstärkt werden. 2017 wird mit den Arbeiten begonnen, 2021 sollen sie abgeschlossen sein. Mittlerweile hat sich die Perspektive der Niederlande aber auch geändert. Statt gegen das Wasser zu kämpfen, probieren die Niederländer verstärkt mit dem Wasser zu leben. Nicht nur durch das milliardenschwere Programm „Ruimte voor de Rivier“ soll versucht werden, den Flüssen mehr Raum zu geben, zusätzliche Retentionsflächen wie zum Beispiel bei Nimwegen zu schaffen, um die Folgen etwaiger Hochwasser, die vom Land her eindringen könnten, abzumildern.
Aber auch an andere Stelle bleiben die Niederländer im Umgang mit dem Wasser kreativ. Vor Naaldwijk dümpeln schwimmende Gewächshäuser herum, in Rotterdam entsteht derzeit eine schwimmende Farm – samt Ökostrom und Kreislaufwirtschaft - und der Amsterdamer Stadtteil Ijburg besteht teilweise aus schwimmenden Wohnblöcken mit Stegen statt Bürgersteigen.
Besuch im Museum Nieuw Land
Wer sich für Einpolderung und die Landgewinnung am Ijsselmeer interessiert, dem sei ein Besuch im Museum Nieuw Land bei Lelystad empfohlen. In einer Multimediashow berichtet der Wasserbauingenieur Cornelis Lely über die Pläne. Ein Modell mit Deichen, Schleusen und einem Dampfschöpfwerk macht die Technologie anschaulich. Die Zuiderzee war auch einer der größten Schiffsfriedhöfe der Welt. 400 gesunkene Boote wurden bei der Trockenlegung des Gebiets geborgen, die auf einer Radtour abgeradelt werden können. Im Museum selbst liegt der 1710 gesunkene Fischfrachter Ventjager. Museum Nieuw Land, dienstags bis freitags 10-17 Uhr, samstags und sonntags 11.30-17 Uhr. Tickets: Erwachsene 8 €, Kinder 4 €. Kombiticket mit der benachbarten Bataviawerft und dem rekonstruierten Windjammer „De Zeven Provincien“: Erwachsene 16 €, Kinder 8,50 €.