Oberhausen. Wirtschaftskrise, Krieg in Europa, Aufschwung für Rechtspopulisten - Vertreter der Wirtschaft sehen einen erheblichen Reformstau in Deutschland.
Muhammet Erdogan macht an diesem Abend nicht den Eindruck, als sei er besonders betrübt oder niedergeschlagen. Doch im Gespräch mit dem Gründer des Unternehmens Erdos GmbH zeigt sich, dass solch engagierte Geschäftsleute, gerade die mit kleineren Betrieben, die Deutschland-Mehrfachkrise hautnah spüren. „Deutschland zeigt oft mit dem Finger auf andere Länder, hat in Wahrheit aber selbst sehr viele eigene Probleme, um die es sich kümmern sollte. Die Wirtschaft muss wieder in Schwung kommen, es müssen wieder Arbeitsplätze geschaffen werden“, sagt der 55-jährige Osterfelder.
Seine Firma erlebt die Wirtschaftskrise direkt, weil Erdogan mit seinem Team die beweglichen Anlagegüter von Pleitefirmen aufkauft - von schweren Lagerregalen bis zu Maschinen. Die vertickt er wieder per Internet vornehmlich an Gewerbe-Profis, die so günstig Produktionsteile für ihre Fabrik erhalten. „Die Zahl der Insolvenzen ist zuletzt um 30 bis 40 Prozent gestiegen. Das bietet mir zwar geschäftlich zunächst mehr Möglichkeiten, doch wenn ich dafür keine Abnehmer finde, dann funktioniert das nicht“, macht sich der Unternehmer Sorgen.
Erdogan würde sogar gerne mehr Arbeitnehmer einstellen. „Bei mir muss kräftig angepackt und geschleppt werden, doch ich erlebe immer wieder, dass es heißt: Mir ist die Arbeit zu viel, mir ist das hier zu hart - und dann gehen die wieder. Ich glaube, wir sind in Deutschland einfach zu satt geworden.“
In diesem Jahr spürt man an den runden Stehtischen eine gewisse Ratlosigkeit
Muhammet Erdogan war einer von 600 geladenen Gästen beim diesjährigen traditionellen Oberhausener Jahresempfang von Oberbürgermeister Daniel Schranz. Zu Jahresbeginn bietet sich in der Stadthalle eine einzigartige Gelegenheit, Männer und Frauen in besonderer Verantwortung für Oberhausen zu treffen, zu diskutieren - und die Stimmung auszuloten.
In diesem Jahr spürt man an den runden Stehtischen eine gewisse Ratlosigkeit, wie man die tiefgreifenden deutschen Probleme nach über einem Jahrzehnt guter Konjunktur beheben kann. Und niemand weiß so richtig, warum eigentlich in liberalen westlichen Demokratien so viele Menschen ihr Heil bei Rechtspopulisten suchen, die vor allem durch Radikalität, einfache Schmalspur-Scheinlösungen, neoliberale Programme zu Lasten von Arbeitnehmern und Gefährdungen für die Demokratie auffallen.
Nur in der Analyse der Schwierigkeiten sind sich vor allem viele Wirtschaftsvertreter einig: zu hohe Energiekosten, zu viel Bürokratie, die Deutschland erstickt, zu wenig Leistungsbereitschaft bei einer Gruppe von Menschen. „Der Abstand zwischen der Bezahlung von einfachen Tätigkeiten und dem Bürgergeld ist zu gering und bietet nicht genug Anreiz zu arbeiten“, beobachtet Diana Fitscher, junge geschäftsführende Gesellschafterin der seit 125 Jahren existierenden Oberhausener Gießerei Fitscher Guss. „Wir benötigen gutes Personal, das Lust hat zu arbeiten.“ Dies sei schwierig zu finden.
Fitscher-Geschäftsführer Stefan Michel kritisiert, dass das Unternehmen so viele Vorschriften erfüllen muss, dass die Verwaltung immer mehr Arbeitskraft erfordert: 23 Leute haben zusätzlich auch noch den Status eines rechtlich notwendigen Beauftragten.
Malermeister über junge Lehrlinge: „Da sind welche, die machen nur das absolut Nötigste“
Malermeister Christian Kassen, Vorsitzender des Initiativkreises Handwerk, wundert sich wiederum über immer noch vorhandene Lieferprobleme wichtiger Materialien und lebenserhaltender Medikamente („Das gab es doch früher nicht, wir haben uns von anderen Staaten zu abhängig gemacht“) und schüttelt über die Motivation junger Leute oft den Kopf. „Da sind einige sehr fit, aber andere machen nur das absolut Nötigste.“ Diesen reiche beim Lehrabschluss auch eine „4“ - Hauptsache mit einem Minimum geschafft.
Peter Geese, Geschäftsführer des Oberhausener Bauunternehmens Geese-Bau, vermutet schon seit Jahren, dass vor allem in den Behörden zu wenige Menschen arbeiten, die die Ärmel hochkrempeln und vertretbare Lösungen anstreben. Das jahrzehntelang versäumte Investment in Brücken und Straßen räche sich jetzt. „Die Rahmenbedingungen für uns verschlechtern sich stetig, die Autobahn-Baustellen sind viel zu viele und behindern unsere Arbeit, kosten uns viel Zeit.“ Sein Wunsch an die Stadt: „Oberhausen muss versuchen, in der Konjunkturkrise mit Aufträgen Oberhausener Unternehmen zu stützen, damit diese nicht auf dem Altar des globalen Wettbewerbs geopfert werden.“
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Der Oberhausener Kreishandwerksmeister und SPD-Ratsherr Jörg Bischoff ist überzeugt davon, dass sich die neue Bundesregierung mehr um die Wirtschaft kümmern muss. „Ohne Wirtschaft geht nichts weiter.“ Die hohen Baukosten machten es fast unmöglich für Familien, Einfamilienhäuser zu erwerben; die Bautätigkeit drohe darniederzuliegen. „Eine staatliche Zulage für Investitionen von zehn Prozent könnte helfen, weil der Bedarf an neuen Maschinen, an KI-Techniken sowie neuen Produktionsformen riesig ist.“ Auch die Halbierung der Grunderwerbssteuer für junge Familien sei notwendig.
Der frühere Bauunternehmer Stephan Heine hält allerdings erst einmal eine Analyse für notwendig. Selbst der Fachmann kann sich nicht erklären, warum sich die Baukosten pro Quadratmeter in nur 15 Jahren von 1000 auf 3000 Euro verdreifacht haben. „Warum ist das so? Ich bin da ratlos. Machen sich da einige die Taschen voll? Vielleicht müssen Baustandards abgesenkt werden, wir müssen einfacher bauen.“
Warum suchen Menschen ihr Heil ausgerechnet bei Rechtsextremisten?
Warum Wähler in Demokratien überhaupt Rechtsextremisten und Rechtspopulisten trotz der verheerenden Geschichtserfahrung in Deutschland in Betracht ziehen und radikales Denken an Attraktivität gewinnt, dafür hat Oberbürgermeister Daniel Schranz in seiner nachdenklichen Grundsatzrede auf dem Jahresempfang ein ganzes Ursachenbündel ausgemacht: die Häufung von großen Krisen, Wohlstandverluste durch Inflation und Rezession, Unsicherheiten aufgrund von Kriegen, die Globalisierung, die Digitalisierung, die weltweit zunehmende Zuwanderung.
Verdi-Gewerkschafterin Henrike Eickholt analysiert dies direkter: „Die Menschen spüren einen immer stärkeren Druck auf Löhne und Gehälter, zugleich steigen die alltäglichen Kosten immens, vor allem die Wohnungsmieten. Das schürt Existenzängste. Darauf brauchen wir Antworten. Die Verantwortlichen in Deutschland haben lange Zeit die Sorgen der Menschen nicht ernst genug genommen.“
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