An Rhein und Ruhr. Betroffene klagen über die telefonische Begutachtung des Medizinischen Dienstes, weiß der Sozialverband VdK. Er will Pflegescouts ausbilden.
Der Erstantrag zur Einstufung in die Pflegeversicherung wurde für die an Demenz erkrankte Frau über die Angehörigen gestellt. Die Erstbegutachtung durch den Medizinischen Dienst erfolgte telefonisch. Coronabedingt. „Nein, Hilfe?“ Die brauche sie nicht. Sie mache noch alles selber, so sagte die alte Dame auf die Fragen, wie sie klar kommt. Dass sie sich nicht mehr das Essen selbst warm macht, vergisst, regelmäßig die Arznei zu nehmen und auch sonst viel Unterstützung im Alltag von der Familie bekommen muss – das behielt sie für sich. Von dem Termin der Begutachtung hatten die Angehörigen nichts erfahren, den Ablehnungsbescheid fanden sie kurz später in der Post. Für Norbert Zielonka, Vorstandsmitglied und Pflegeberater des VdK-Kreisverbandes Düsseldorf, ist dies nur ein Fallbeispiel aus der Praxis, das zeigt, „wie schwierig eine telefonische Begutachtung durch den Medizinischen Dienst war“. Über 3000 eingereichte Klagen im Bereich der Pflegeversicherung beim Landessozialgericht in 2021 überraschten da nicht.
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Das Landessozialgericht musste sich im vergangenen Jahr verstärkt mit Klagen zur Pflegeversicherung beschäftigen. Erstmals stiegen die Fallzahlen auf 3043. 2020 waren es 2614 Klagen. Das ist ein Anstieg von 16,74 Prozent. Der Sozialverband VdK sieht darin einen Beleg dafür, „dass Behörden Menschen in Notsituationen vielfach im Regen stehen lassen“, kritisiert Thomas Zander, VdK-Geschäftsführer in NRW. Einen Grund für den Anstieg sieht der VdK „in der schwierigen telefonischen Begutachtung des Medizinischen Dienstes während der Corona-Pandemie.“ Dies habe zu vielen Antrags-Ablehnungen geführt.
„Über 3000 Klagen. Das ist eine Zahl, die wir so nie hatten. Normalerweise seien Klagen zur Pflegeversicherung eher im unteren Bereich. Doch in der Coronazeit haben wir immer wieder von unseren Mitgliedern gehört, wie schwierig die telefonische Begutachtung des Medizinischen Dienstes war“, sagt auch Manuela Anacker, Leitende Referentin der Abteilung Sozialpolitik beim VdK. „In unserer Beratungspraxis machen wir leider immer wieder die Erfahrung, dass Betroffene die ihnen zustehende Unterstützung erst dann erhalten, wenn sie diese auf juristischem Wege durchsetzen“, sagt sie.
Norbert Zielonka befasst er sich seit 2019 intensiv mit der Begutachtung durch den Medizinischen Dienst, berät die Verbandsmitglieder und begleitet sie bei Widerspruchsverfahren. „In 2020 und 2021 ist sofort aufgefallen, dass ein hohes Maß an Pflegegrad 1 festgelegt und vieles abgelehnt wurde, was bei einer konsequenten Befragung in einen höheren Pflegegrad gemündet wäre“, sagt er.
Das Problem: „Viele ältere Menschen wissen gar nicht genau, wie sie den Fragebogen ausfüllen sollen, was auf sie zukommt, und sie erzählen auch gerne, dass sie noch alles machen können. Die Gutachter könnten sich telefonisch kein richtiges Bild machen. Und einen Demenzkranken beispielsweise, den man noch nie gesehen hat, in einem kurzen Gespräch zu erkennen, das sie schon schwierig“, erklärt Manuela Anacker.
Was ist pflegerelevant?
„Wer gibt schon gerne zu, dass er was vergisst. Bei einer Begutachtung sollte immer ein Dritter dabei sein“, sagt Norbert Zielonka. Und: Wer einen Antrag stellt, sollte auch wissen, was er beantragen kann. Dies sei nicht immer der Fall. „Wenn ich frage, was denn benötigt wird, kommt oft: Ich brauche Hilfe beim Einkaufen, beim Putzen. Aber das sind keine pflegerelevanten Dinge“, klärt Norbert Zilonka auf, der im vergangenen Jahr 550 telefonische Beratungen zum Thema Pflegeversicherung durchgeführt hat.
Deshalb sei es wichtig, dass sich die Pflegebedürftigen vor der Antragstellung genau informieren. „Der Bedarf nach einer niederschwelligen Beratung ist groß“, weiß auch Svenja Weuster, Geschäftsführerin des VdK-Kreisverbandes Niederrhein. In Zusammenarbeit mit dem Caritasverband für die Dekanate in Dinslaken und Wesel sollen im Mai erste ehrenamtliche Begleiter gezielt für Pflegebegutachtungen geschult werden. Svenja Weuster hat schon viele Rückmeldungen von Mitgliedern aus den Ortsverbänden, die ihr Interesse bekunden und hofft am Ende auf 25 Mitstreiter zu kommen.
Medizinischer Dienst: Gute Erfahrungen mit der Telefonbegutachtung
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Auch in Düsseldorf baut der VdK ein ähnliches Angebot mit der Verbraucherzentrale auf. Auch hier sollen Pflegescouts, die der Sozialverband aus seinen Mitgliedern akquiriert, ausgebildet werden. Sie sollen im Vorfeld der Begutachtung beraten und – vor allem Alleinstehende – auch bei der Begutachtung begleiten. Fünf Interessenten gebe es schon. Ziel sei es, bis Ende 2023 etwa 20 Pflegescouts für Düsseldorf zu haben.
Der Medizinische Dienst Nordrhein kann die Kritik an der telefonischen Begutachtung derweil nicht bestätigen. „Wie haben sehr gute Erfahrungen mit der Telefonbegutachtung gemacht“, sagt Barbara Marnach, Pressesprecherin des Medizinischen Dienstes Nordrhein (MD). Dies spiegele auch eine aktuelle Versichertenbefragung zur Pflegebegutachtung wider. „Über 90 Prozent der Pflegebedürftigen oder Angehörigen waren mit dieser Form der Begutachtung zufrieden“, so Marnach. Die Gesamtzufriedenheit mit der telefonischen Begutachtung (90,1 Prozent) habe noch höher gelegen als bei der Begutachtung im Hausbesuch (87,8 Prozent).
Es seien auch nicht mehr Anträge abgelehnt worden. „Zwischen Hausbesuch oder Telefonbegutachtung gab es keine Unterschiede“, erklärt der MD. 2021 wurden 92,3 Prozent der Anträge auf Leistungen aus der Pflegeversicherung vom MD positiv beschieden, 7,7 Prozent abgelehnt. Allerdings: Die Zahl der Anträge ist auch deutlich gestiegen von 266.215 in 2019 über 295.963 in 2020 auf 315.554 in 2021. Auch dies müsse gesehen werden.