An Rhein und Ruhr. Seniorenheime müssen häufiger mit oft suchtkranken, männlichen Pflegefällen klarkommen. In einer Einrichtung ist die Situation jetzt eskaliert.

Als sie die blau gemusterte Männerunterhose im Bett ihrer Mutter fand, hat Ute Marks noch ihre Scherze gemacht. Von wegen: „Na na, Mama, in deinem Alter!“ Doch mittlerweile ist ihr das Lachen vergangen. Ihre Mutter, Inge Schulze-Heiming ist so alt wie Königin von England. 95 Jahre, hochdement. Manchmal weiß sie ihren Vornamen nicht, doch Angst und Schrecken spürt sie. Denn sie wird in ihrem Pflegeheim terrorisiert von einem Mitbewohner, etwa dreißig Jahre jünger. Eine Bedrohung nicht nur für sie: Eine ganze Senioreneinrichtung in Oer-Erkenschwick leidet unter Herrn K.

Letztens schlug er den eigens für ihn eingesetzten Security-Mitarbeiter nieder, der dafür sorgen soll, dass K. niemanden belästigt und stand nackt am Bett der 95-Jährigen, die aufgrund ihrer Demenz über die Vorfälle nicht einmal sprechen kann. An guten Tagen sitzt Inge Schulze-Heiming jedoch in ihrem Lehnstuhl am Fenster, schaut hinaus auf Kreisverkehr und Parkplatz und kommentiert jedes Auto mit erzählt erfundenen Geschichten über die Menschen, die kommen und gehen.

Die Erinnerungen an ein buntes Leben mit weiten Reisen gemeinsam mit den Töchtern hängen an der Wand. Mehrfach pro Woche besuchen Ute Marks und ihre Schwester die Mutter. Anderthalb Jahre lang hatten sie das Gefühl, ihre Mutter gut untergebracht zu haben.

Das Haus war wohnortnah für ihre Mutter, Tochter Ute pendelt zwischen ihrem Wohnort Kleve und der Arbeit in Dortmund und sieht mindestens zweimal in der Woche nach dem Rechten. Und muss sich seit einem halben Jahr zunehmend Sorgen machen. Erst war es nur die Unterhose, dann waren die Möbel verrückt, ihre Mutter wurde zunehmend verschlossener, verängstigt durch den wilden Mann, der da durch die Gänge tobt und schamlos ausnutzt, dass auf dem Flur die Türen zu den Zimmern offen stehen.

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Ute Marks, die von dem Mann auch schon körperlich angegangen worden ist, will jetzt einen Anwalt einschalten, womöglich Anzeige erstatten, denn das Heim hat ihr zu verstehen gegeben: Ohne gerichtsfeste Dokumentation des Treibens gibt es keine Chance, Herrn K. in die Schranken zu weisen.

Awo: „Fühlen uns als Träger derzeit sehr allein gelassen.“

Die Heimleitung selbst wollte sich nicht äußern, aber die Trägergesellschaft, die Awo Westliches Westfalen. Auch die tut sich schwer, wegen der Persönlichkeitsrechte von Herrn K. über dessen Fall konkret zu sprechen. Soviel indes ist klar: „Ich habe volles Verständnis für den Unmut der Angehörigen. Wenn das meine Mutter wäre, würde ich von der Einrichtung auch wissen wollen, was sie tut, um solche Vorfälle zu unterbinden“, sagt Elke Hammer-Kunze, stellvertretende Geschäftsführerin. Ohne Herrn K. zu erwähnen, führt sie aus: „Es ist ein hohes Gut, dass mittlerweile auch Menschen mit hoher Suchtproblematik alt werden können, aber auch für diese Menschen braucht es eine spezielle Versorgung. An der Stelle fühlen wir uns als Träger derzeit sehr allein gelassen.“

Das Heim in Oer-Erkenschwick: Hier mischt Herr K. die Mitarbeitenden und Bewohnerinnen auf – selbst Security bekommt ihn nicht gebändigt.
Das Heim in Oer-Erkenschwick: Hier mischt Herr K. die Mitarbeitenden und Bewohnerinnen auf – selbst Security bekommt ihn nicht gebändigt. © Herm | Foto

Herr K. so die Awo weiter, ist ein extremer Ausreißer, aber die Awo registriert in den letzten Jahren „eine deutliche Verschiebung bei den Menschen, die wir in unsere Einrichtungen aufnehmen. Das sind mehr Menschen mit Suchtproblematiken, oft männlich und deutlich jünger als die ‚klassischen‘ Pflegeheimbewohnerinnen, die oft weiblich, hochbetagt und dement sind.“ Es sind zwei Generationen, zwei Lebensentwürfe und eine andere Physis, die da aufeinander prallen. Suchtkranke, die in anderen Zimmern wüten, durch Corona am Ausgang gehindert, auf der Suche nach Alkoholika oder ähnlichem.

Schockierend für die alten Bewohner, die sich überfallen fühlen: „Die alten Damen bei uns haben oft ein hohes Sicherheitsbedürfnis, weil auch nicht wenige eine Lebensgeschichte haben, in der sie Gewalt in Beziehungen erfahren haben.“, weiß Frau Hammer-Kunze, die den Geschäftsbereich „Wohnen und Leben“ der Awo verantwortet.

Zwischenzeitlich gab es Hoffnung auf eine Lösung: Herr K. sollte umziehen, ins Haus Barbara in Essen. „Wir nehmen Menschen aus ganz Deutschland auf, die manchmal auch von der Platte kommen“, sagt der Leiter, Jörg Koslowski. Obdachlose, Suchtkranke, Menschen mit psychischen Behinderungen.

Pflegebedürftig und psychisch krank – und das oft schon mit 30

„Das geht manchmal schon bei Menschen mit 30 los“, sagt er. Geschultes Personal arbeite in der „beschützten Einrichtung“ im Essener Süden. Beschützt – das heißt hier oft, die gerontopsychiatrisch veränderten Menschen vor sich selbst zu schützen – und andere vor ihnen.

Haus Barbara wird gerade mal wieder ausgebaut, 1977 begann es mit 24 Plätzen, mittlerweile hat das Haus 139 Plätze, demnächst werden es 160 sein. Auch er bestätigt: Es gibt immer mehr Menschen, deren Psyche sich oft schon in mittlerem Alter so verändert, dass sie pflegebedürftig werden. Zu Herrn K. befragt, ist Koslowski still. Die Persönlichkeitsrechte. Aber: „Wir schauen uns bei jeder Anfrage zunächst einmal den Menschen an. Aber es gibt auch Fälle, wo wir sagen müssen: Es geht nicht. Zumindest jetzt nicht“, sagt Koslowski.

Für das geplagte Awo-Heim geht die Suche nach einer Alternative für Herrn K. weiter. „Klar ist: Der Bewohner muss jetzt aus dieser Einrichtung raus, wir wissen nur einfach nicht wohin. Wir müssen wirklich schauen, ob wir da nicht als Gesellschaft baulich und organisatorisch andere Versorgungsstrukturen aufbauen“, sagt Elke Hammer-Kunze. Hinzu kommt: Herr K. steht unter gesetzlicher Betreuung, ihn mit Medikamenten ruhig zu stellen oder im Zimmer einzuschließen – das geht nur mit richterlichen Beschlüssen und um diese zu erwirken, muss der Betreuer mitspielen.

Psychiatrische Fachärzte in die Einrichtung zu bekommen, sei ebenfalls schwierig, so die Awo. „Wenn es uns gelingt, für jemanden einen Platz in einer psychiatrischen Einrichtung zu finden, kommen diese Menschen oft nach zwei oder drei Tagen wieder zurück, weil sie dort nicht auffällig geworden sind“, so Hammer-Kunze. Sie können Herrn K. abmahnen, könnten sie auch den Betreuungsvertrag kündigen. Dann wäre K. obdachlos. Auch das sei mit den Idealen der Awo nicht vereinbar.

Ministerum in NRW ist mittlerweile auch eingeschaltet

Mittlerweile liegt der Fall K. sogar beim Landesgesundheitsministerium in NRW und bei der Landesbehindertenbeauftragten vor. Einen so krassen Fall wie die im Fall K. geschilderten Gewaltexzesse hat man dort bislang noch nicht vorgetragen bekommen.

Gleichwohl: „Um den Gewaltschutz in Pflege- und Betreuungseinrichtungen sowie Werkstätten für behinderte Menschen weiter zu verbessern, befindet sich eine Änderung des Wohn- und Teilhabegesetzes auf Initiative der Landesregierung aktuell im parlamentarischen Beratungsverfahren des Landtages“, heißt es dort. Im Januar gab es eine Sachverständigenanhörung. Ausgelöst wurde die Debatte durch Menschenrechtsverletzungen durch Mitarbeitende einer Behinderteneinrichtung in Ostwestfalen, die vor Jahresfrist bekannt wurden.

Seit wenigen Tagen ist zumindest für Inge Schulze-Heiming eine Lösung in Sicht. Die dauernden Beschwerden der Tochter haben zumindest erreicht, dass sie jetzt ein Stockwerk höher ziehen darf. In ein Zimmer mit fast dem gleichen Ausblick auf den Parkplatz. Ute Marks hofft, dass ihre völlig verängstigte Mutter demnächst wieder das Geschehen auf dem Parkplatz kommentiert. Doch eine Etage tiefer, im Flur mit dem schönen Namen „Buttergasse“ ist nichts in Butter. „Altweiber wird Herr Goodrige unsere Bewohner*innen mit bekannten Karnevalshits überraschen“, kündigt das Haus im Internet an. Doch das Lachen ist vielen dort vergangen.