Essen. Der Drang kommt überfallartig, ein WC ist fern, plötzlich ist die Hose nass. Inkontinenz quält Betroffene. Warum viele aber nicht zum Arzt gehen.

Sie machen sich Vorwürfe, verstecken ihr Leiden vor Freunden und Familie: „Patienten mit Harninkontinenz suchen die Schuld oft erstmal bei sich“, sagt Prof. Dr. Mark Goepel. Aus Scham zögerten viele Betroffene auch einen Arztbesuch hinaus. Dabei könne den Patienten heute meist sehr gut geholfen werden, betont der Essener Urologe.

Inkontinenz ist keine zwangsläufige Alterserscheinung

Doch ältere Patienten glaubten oft, die Inkontinenz quasi als Alterserscheinung hinnehmen zu müssen, Junge wollten sie nicht wahrhaben oder sähen sie als persönliches Versagen. „In Momenten der intimen Zweisamkeit ist das natürlich besonders unangenehm.“ Weil viele sich nicht einmal dem Partner anvertrauten, schränke die Harnstörung das Leben der Betroffenen oft erheblich ein.

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„Es ist ja höchst unangenehm, wenn Sie zum Beispiel auf der Rolltreppe stehen, der Harndrang kommt wie ein Flash, und hinter Ihnen sieht einer, wie Ihre Hose nass wird.“ Viele Betroffene versuchten daher erst mit Bordmitteln, die eigene Freiheit zu erhalten: Sie kauften sich Vorlagen, präparierten sich für Supermarktbesuch oder Straßenbahnfahrt. Immer begleitet von der Angst vor einer peinlichen Situation.

Prof. Goepel würde ihnen gern helfen. Er hat das jahrelang als Chefarzt am Helios-Klinikum Niederberg getan, und setzt statt Ruhestand seine Arbeit nun in der Urologischen Praxisklinik mit Standorten in Rüttenscheid und Werden fort. Er hat Bücher zum Thema verfasst und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kontinenz, die sich am 22. und 23. November in Essen trifft.

Urinverlust bei Husten, Lachen oder Bücken

Leider seien die Kenntnisse über Inkontinenz auch bei manchen Hausärzten begrenzt, dabei gebe es bundesweit geschätzt 6,5 bis 8 Millionen betroffene Männer und Frauen. Wie sie behandelt werden sollten, hänge von der jeweiligen Ursache ab. Grob könne man zwei Formen von Inkontinenz unterscheiden: „Da gibt es einmal den Urinverlust ohne Harndrang: Der tritt zum Beispiel beim Husten, Lachen oder Bücken auf, weil der Druck nicht ausgehalten wird“, erklärt der Urologe. Betroffen seien oft Frauen, die nach einer Geburt eine Blasenschließmuskelschwäche haben.

Fachbücher und Patientenratgeber verfasst

Prof. Dr. Mark Goepel war von 2001 bis 2023 Chefarzt der Klinik für Urologie, Kinderurologie und Urologische Onkologie am Helios-Klinikum Niederberg in Velbert. Seit Sommer 2023 arbeitet er in der Urologischen Praxisklinik Essen.

Er ist Experte für das Thema Harninkontinenz, hat Fachbücher zur Urodynamik und Patientenratgeber zu Blasenstörungen verfasst und herausgegeben. Als Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kontinenz, die Ende November in Essen tagt, hat er die Leitlinien zur Behandlung von Inkontinenz mitentwickelt.

Daneben gebe es Patienten, die überfallartig einen heftigen Harndrang spüren. „Der Harndrang ist ja ein normales Signal zur Blasenentleerung: Wenn man erst zehn Minuten später zum Klo gehen kann, schafft man es auch“, sagt Goepel. Nur: Bei der krankhaften Drangblase könne man nicht mehr warten, sondern lasse alles stehen und liegen und renne zur Toilette. „Da gibt es teils nur ein paar Sekunden Alarmzeit. In extremen Fällen merken die Leute es erst, wenn es schon läuft.“

Blasenschwäche kann zahllose verschiedene Ursachen haben

Dieser krankhafte Harndrang könne durch eine Störung der Blase bedingt sein. In anderen Fällen liege eine Hirnleistungsstörung vor, die etwa durch eine neurologische Erkrankung wie Parkinson oder einen Schlaganfall verursacht werde. Bei Männern trete die Drang-Inkontinenz auf, wenn sich die Prostata mit zunehmendem Alter vergrößere; seltener nach Operationen von Prostatakrebs. „Eine Harninkontinenz ist im Grunde ein Symptom wie Kopfschmerzen: Es kann zahllose verschiedene Ursachen haben“, fasst Goepel zusammen.

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Betroffene sollten erst zum Hausarzt gehen, doch wenn der nicht weiterwisse, „sollte man sich nicht mit Vorlagen abspeisen lassen“. Sondern einen Spezialisten aufsuchen. Der mache im ersten Schritt eine nicht eingreifende körperliche Untersuchung, untersuche der Urin, lasse den Patienten ein Trink-Protokoll führen. „Nach dieser Basisdiagnostik kann man meist einen ersten Behandlungsversuch starten.“ Etwa mit Physiotherapie, Elektrostimulation, Beckenbodentraining (auch für Männer) oder einer medikamentösen Therapie.

Ist der Versuch nicht erfolgreich, folgt im zweiten Schritt eine Diagnostik mit Funktionsprüfung von Blase und Schließmuskel. Bei dieser urodynamischen Untersuchung werden auch Katheter eingeführt. Das sei aufwendig und zeitintensiv und nur mit entsprechender Medizintechnik zu leisten: „Aber es ist der Königsweg, wenn der erste Teil nichts ergeben hat.“

Der soziale Preis der Krankheit ist hoch

Am Ende kann eine Operation erforderlich sein, etwa die Implantation eines Harnröhrenbändchens bei Frauen. Oder ein Schlüssellocheingriff, mit dem die Blase wieder in die richtige Lage gebracht wird, wenn die sich nach der Entfernung der Gebärmutter verschoben hat. Auch die Implantation eines künstlichen Blasenschließmuskels sei möglich, sagt Goepel.

„In ganz vielen Fällen können wir heute helfen.“ Und niemand solle sich scheuen, Hilfe zu suchen, nur weil man an Inkontinenz nicht sterbe. „Der soziale Preis, den die Betroffenen zahlen, ist zu hoch. Viele vereinsamen, weil sie den Theaterbesuch absagen, die Essenseinladung ablehnen, irgendwann gar nicht mehr ausgehen.“

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