Essen-Kray. Mit zehn Jahren flüchtet Aldin Abaza aus dem damaligen Jugoslawien. Seinen weiteren Lebensweg bestimmte dann zunächst seine Grundschullehrerin.
Aldin Abaza war zehn Jahre alt, als er 1992 mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien floh. Sein Weg führte ihn von Mostar im heutigen Bosnien-Herzegowina nach Essen-Kray, wo sein Vater bereits seit 1973 als Stahlbetonbauer arbeitete. Heute ist Abaza 42 Jahre alt, Inhaber von drei Supermärkten und einem Getränkemarkt in Kray und Schonnebeck. All das hätte auch anders kommen können, hätte nicht damals eine Grundschullehrerin Schicksal gespielt.
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Der Umzug in ein fremdes Land, eine fremde Stadt – er kam von jetzt auf gleich. „Meine Mutter hat meinen Vater in Essen angerufen und nur gesagt: ,Hier geht es jetzt los, wir kommen.‘“ Das war im April des Jahres 1992. „Mein Papa wollte das damals gar nicht so recht glauben, hat immer wieder gesagt, das kann doch nicht sein, nicht in Jugoslawien. Aber es war so. Wir waren plötzlich im Krieg.“
Die Abazas lassen Freunde und auch Familienmitglieder zurück und fliehen ins Ruhrgebiet. Eine enorme Umstellung, auch innerhalb der Familie. „Mein Vater – ein typischer Gastarbeiter der 1970er-Jahre – war für mich mehr oder minder ein Fremder, der nur bei uns war, wenn er mal Urlaub hatte. Das war also erst einmal eine sehr ungewohnte Situation für uns als Familie.“
Schulstart in Essen ohne ein Wort Deutsch
Im Juni kommt Abaza direkt in die vierte Klasse der katholischen Barbaraschule in Kray, ohne dass er auch nur ein Wort Deutsch spricht. „Auch das war wirklich nicht einfach. Aber tatsächlich hat es mich auch fasziniert. Denn in Jugoslawien, das war ja ein kommunistischer Staat, hatte ich überhaupt keinen Kontakt zu anderen Nationen. Und in Kray war dann plötzlich alles ganz anders. Aber vor allem wurde ich von allen an dieser Schule, die es heute leider nicht mehr gibt, von allen Mitschülern und Lehrern sehr freundlich aufgenommen.“
Insbesondere die damalige Klassenlehrerin, Cäcilia Gertz, setzt sich für den Zehnjährigen ein – und überzeugt seine Eltern, Aldin nicht wie schon den älteren Bruder auf die benachbarte Hauptschule zu schicken. Die einfachste Lösung angesichts eines Schulsystems, das sich, sagt Abaza, seinen Eltern damals gar nicht richtig erschlossen habe, „vor allem, weil mein Vater nur harte Maloche kannte“. Gertz aber besteht darauf, dass der Zehnjährige die vierte Klasse noch einmal wiederholt, um dann aufs Gymnasium zu gehen. „Sie hat gesehen, dass ich in Mathe und Geografie sehr gut war, dass ich eine Affinität für Sprachen habe – und deshalb hat sie mich gefördert.“
Erster Nebenjob in einem Essener Supermarkt gibt Berufsweg vor
Jeden Tag nach der Schule lernt Abaza zusätzlich eine Stunde Deutsch im Büro seiner Klassenlehrerin – „Individualunterricht wie aus dem Lehrbuch“ – und qualifiziert sich nach zwei Jahren in Deutschland fürs Viktoria-Gymnasium. Schon während seines Abiturs jobbt er im Edeka-Markt an der Krayer Straße, bleibt dort auch als Student der Wirtschaftswissenschaften, hängt noch ein Lehramts-Studium an. „Und dann bekam ich 2015 die Chance, den Markt zu übernehmen.“ Abaza greift zu und findet im Handel seine Leidenschaft und Berufung. 2020 folgen der Laden und Getränkemarkt an der Beckhove, 2022 ein weiterer Edeka an der Huestraße in Schonnebeck.
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Seinen beruflichen Erfolg, sagt der 42-Jährige, verdanke er zu großen Teilen seiner damaligen Lehrerin. „Wir telefonieren bis heute regelmäßig, und ich bin ihr unendlich dankbar für alles, was sie für mich getan hat. Ihr Einsatz war und ist nicht selbstverständlich. Aber ich habe ihr auch gezeigt, dass ich Lust habe zu lernen. Ich war motiviert. Ich kam aus einem Kriegsgebiet, und für mich war ganz klar: Okay, in nächster Zeit werde ich nicht mehr zurückkehren. Es ist nicht in einem halben Jahr alles wieder gut, sondern ich bleibe jetzt erstmal hier. Und deshalb wollte ich mich unbedingt integrieren. Denn Kray und Essen waren jetzt meine Heimat. Sind es bis heute.“
Eine Einstellung, die Abaza beibehalten hat. Als Sponsor unterstützt er mittlerweile gleich mehrere Essener Sportvereine. Den FC Kray etwa, den Club seiner Jugend. Aber auch den SV Leithe, die SpVg Schonnebeck. Seine Azubis haben gerade erst eine Spendenübergabe für Be Strong For Kids initiiert. Und regelmäßig stellt er Einrichtungen wie dem Verein für Kinder- und Jugendarbeit in sozialen Brennpunkten (VKJ) oder Abiturklassen kostenlos sämtliche Zutaten für den Waffelverkauf vor seinen Läden zur Verfügung, um darüber Spenden zu sammeln.
Und Abaza engagiert sich im Gastkirchen-Programm in St. Barbara – „wir unterstützen da das kostenlose Mittagessen“ – und initiiert auch dieses Weihnachten wieder eine große Wunschbaum-Aktion zugunsten der VKJ-Kinderhäuser.
„Ich weiß, dass ich sehr viel Glück hatte. Und mir ist klar, dass das heute wahrscheinlich kaum noch möglich wäre. “
Der Krayer Geschäftsmann wirkt gleichermaßen stolz wie verlegen bei dieser Aufzählung. Wenn er aktuell einen ukrainischen Geflüchteten für seinen Getränkemarkt eingestellt hat, obwohl der bislang noch kaum Deutsch spricht, dann ist auch das, wie alles andere, vor allem der Versuch, etwas von dem zurückzugeben, was ihm diese Laufbahn erst ermöglicht hat. „Ich weiß, dass ich sehr viel Glück hatte. Und mir ist klar, dass das heute wahrscheinlich kaum noch möglich wäre. Meine Frau Anela ist Lehrerin in Borbeck. Ich weiß, wie groß die Belastungen heute für alle Beteiligten, für Lehrer und Geflüchtete, sind.“
Familienname in Großbuchstaben über den Läden in Essen
Vor fünf Jahren ist Abazas Vater verstorben. „Meinen ersten Markt hat er aber noch erlebt. Hat unseren Familiennamen, den Namen eines Gastarbeiters, in Großbuchstaben über dem Eingang gesehen. Er war sehr stolz auf mich.“ Abaza lächelt. „Und gewissermaßen hat uns dieser schreckliche Krieg auch zusammengebracht. Denn erst als wir hierher zu ihm gezogen sind, haben wir auch die Gelegenheit bekommen, einander kennenzulernen. Er hatte viele Sorgen damals. Aber er hat sich auf den Vorschlag von Cäcilia Gertz eingelassen.“
Vielleicht, endet Aldin Abaza, hätte er das, was er heute habe, auch auf anderem Weg geschafft. „Eine Hauptschule zu besuchen, heißt ja nicht, dass man nichts erreichen kann. Aber diese Lehrerin hat mir den Weg geebnet. Das war mein Glück. Und wenn ich heute durch meine Märkte gehe, bekomme ich jedes Mal wieder Gänsehaut.“
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