Essen. Nach einem brutalen Verbrechen vor über 20 Jahren in Holsterhausen meinte die Kripo, den Täter überführen zu können. Doch es kam alles anders.

Ein Quätschen ist immer drin. Cäcilia Lange ist bekannt als die Nachbarin am Fenster und eine starke Raucherin. Gerne und häufig mit einer Zigarette zwischen den Fingern beobachtet die 78-Jährige aus ihrer kleinen Wohnung im Erdgeschoss das Treiben vor dem Mehrfamilienhaus in Essen-Holsterhausen. So zieht der Qualm nicht in die eigenen zweieinhalb Zimmer, sondern wabert vom Wind getragen durch die Fassadenschlucht der Führichstraße.

Dort, hinter der Hausnummer 4, führt die ältere alleinstehende Dame seit vielen Jahren ein bescheidenes, ein einsames Leben. Sie ist so tüddelig wie redselig, auf Geld vom Sozialamt angewiesen und pflegebedürftig. Zu ihrem Kind hat sie weniger Kontakt als zu ihren Alltagshelfern. Die zumindest klingeln regelmäßig bei ihr.

So auch am 12. Oktober 2003. Als ein Mitarbeiter des Pflegedienstes eintrifft, steht das Fenster, durch das Cäcilie Lange so gerne den blauen Dunst zwischen die beengende Wohnbebauung bläst, sperrangelweit auf. Was in ihrem Fall eigentlich nichts Besonderes ist. Dass sie ihrem Betreuer aber auf dessen Schellen hin nicht öffnet, schon eher. Nach mehrmaligen erfolglosen Versuchen beschafft sich der Pfleger schließlich eine Leiter, klettert in die Wohnung und entdeckt Schockierendes.

In einer Lache aus Blut auf dem Boden

Cäcilia Lange liegt in einer Lache aus Blut auf dem Boden ihres Wohnzimmers. Getötet von einem bis heute unbekannten Täter. „Sie wurde brutal umgebracht, durch scharfe und stumpfe Gewalt teils gegen den Hals“, sagt Kriminalhauptkommissar Dustin Wisnewski, Leiter der Ermittlungsgruppe „Cold Cases“ der Essener Polizei, die ungeklärte Tötungsdelikte und Vermisstenfälle mit modernsten kriminalistischen Methoden und neuen Möglichkeiten neu aufrollt, um sie möglichst zu klären - zum Teil nach Jahrzehnten noch. Mord verjährt nie.

Mit diesem Plakat suchte die Mordkommission „Führich“ 2003 nach Zeugen und Hinweisgebern.
Mit diesem Plakat suchte die Mordkommission „Führich“ 2003 nach Zeugen und Hinweisgebern. © Polizei Essen

Zeugenhinweise und die Spurenlage geben den Ermittlern schon kurz nach der Ermordung der Rentnerin eine relativ klare Vorstellung, was wann in der Wohnung passiert sein könnte. Die Tatzeit lässt sich durch aufmerksame Beobachtungen sogar schneller eingrenzen als durch die Untersuchung der Leiche in der Rechtsmedizin. Der Kripo und dem damaligen Leiter der Mordkommission „Führich“, Michael Weskamp, entgeht kein Detail: Die aufgeschlagene Seite der Fernsehzeitung zeigt das Programm des 10. Oktober und die Medikamente, die Cäcilia Lange regelmäßig benötigte, hat sie zwar am Morgen des selben Tages eingenommen, am Mittag aber nicht mehr.

Eine Haushaltshilfe war am Morgen vor Ort. Nachdem die Frau gegangen war, meinen Nachbarn die Seniorin noch lebend gesehen zu haben. Ein Zeuge berichtet von Schreien, die er kurz vor Mittag gehört haben will. Am Ende war es aufgrund all dieser Indizien „sehr wahrscheinlich, dass sie zur Mittagszeit umgebracht wurde“, sagt Dustin Wisnewski. Entscheidend sei in solchen Fällen immer, den Todeszeitpunkt möglichst genau feststellen zu können. „Ich beschreibe das als Zeitstrahl.“ Anhand einer solchen Abfolge gesammelter Fakten sei am Ende erkennbar, wann wer noch gelebt hat, bevor er zu einer bestimmten Uhrzeit Opfer eines Kapitaldelikts wurde.

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Aus dem Umfeld des Tatorts erfahren die Ermittler, dass drei Tage vor dem Fund der Leiche ein Mann in der Wohnung der 78-Jährigen gewesen soll. Er habe ihr wohl Teppiche verkaufen wollen, sie unter Druck gesetzt, heißt es. Zusammen mit einem Komplizen wollte der Unbekannte mit Cäcilia Lange zur Sparkasse fahren, damit sie dort Geld abhebt. Dem aber hat sich die ältere Dame verweigert.

Ein verdächtiges Auto mit Tuttlinger Kennzeichen

Nachdem eine Nachbarin zudem von einem verdächtigen Auto mit Tuttlinger Kennzeichen in der Führichstraße berichtet hat, dessen Halter ein wegen betrügerischer Haustürgeschäfte verurteilter 53-Jähriger aus Kaiserslautern war, hofft die damalige Mordkommission bereits, den alles entscheidenden Strang in den Händen zu halten. Plötzlich schließt sich der Kreis: Ja, auch Cäcilia Lange passt nur zu gut in das Opferprofil jener Banden, die Senioren mit miesen Maschen gleich reihenweise ausnehmen. Man konnte davon ausgehen, dass man es mit einer sogenannten Straftat zum Nachteil älter Menschen zu tun hat, mit einem „ausufernden SäM-Delikt“, wie es Wisnewski formuliert.

Im Erdgeschoss dieses Hauses in Essen-Holsterhausen wurde Cäcilia Lange brutal ermordet.
Im Erdgeschoss dieses Hauses in Essen-Holsterhausen wurde Cäcilia Lange brutal ermordet. © FUNKE Foto Services | Dirk A.Friedrich

Eine mögliche Erklärung dafür, warum der vermeintliche Trickbetrug oder -diebstahl dermaßen aus dem Ruder lief, können die Ermittler gleich mitliefern. Während ein Täter die alte Dame an der Tür ablenkt, sei ein zweiter in die Wohnung gehuscht, um nach Wertsachen zu suchen, dann aber von der 78-Jährigen gesehen worden. Die Kriminellen und ihr Coup fliegen auf, die Rentnerin wird von einer Sekunde auf die andere zu einer gefährlichen Belastungszeugin, die es aus dem Weg zu räumen gilt.

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Das ist ihr Verhängnis: Der oder die Täter metzeln sie mit einem Schlagmesser nieder. Sie stirbt, wie die Obduktion später ergibt, an Verbluten und stumpfer Gewalt gegen den Hals. Den Ermittlern gelingt es zwar, eine DNA-Spur am Tatort zu sichern. Und sie wissen, dass der verurteilte Betrüger aus Kaiserslautern „bei der Tat präsent war“, wie es der damalige MK-Leiter formuliert. Jedoch können sie dem Beschuldigten letztlich keine aktive Rolle bei der Tötung nachweisen.

Noch ein Pfund in der Hinterhand

Zu einem Ermittlungserfolg führt am Ende ebenso wenig die Überprüfung von rund 80 weiteren Verdächtigen, von denen die Ermittler wissen, dass sie in wechselnden Zusammensetzungen mit dem 53-Jährigen Straftaten begangen haben. Doch Dustin Wisnewski meint über 20 Jahre später, noch ein Pfund in der Hinterhand zu haben, um Cäcilia Langes Mörder überführen zu können.

Es existiert auch in diesem Fall in den Asservaten eine Leichenfolie, mit der die Tote damals abgeklebt worden ist, um Spuren in Gestalt von Haaren oder Hautschuppen zu sichern. Die darauf konservierte DNA wird aktuell „auftypisiert“, so Wisnewski, mit technischen Mitteln, die vor zwei Jahrzehnten noch nicht zur Verfügung standen. „Und ich habe wirklich die Hoffnung, dass eine Spur dem Täter zuzuordnen ist.“ Diesmal vielleicht zweifelsfrei.

Wer etwas weiß über den Mord an Cäcilia Lange sollte sich bei der Polizei Essen melden unter 0201 829-0 oder per Email unter hinweise.essen@polizei.nrw.de. Das gilt auch für weitere Cold Cases, mit denen die Polizei unter anderem in ihrem YouTube-Format „Pottcast ungelöst“  in der Hoffnung auf neue Ermittlungsansätze an die Öffentlichkeit gegangen ist und gehen wird. Insgesamt gelten 32 Tötungsdelikte und 24 Vermisstenfälle in der Zuständigkeit der Behörde an der Büscherstraße als ungeklärt.

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