Essen. Kein Patentrezept, aber gute Ratschläge: So verlief der Besuch des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten und Chefs der Freien Wähler.

„Es is a Wahnsinn“, sagt Hubert Aiwanger mit unverkennbarem Zungenschlag. Dieser Satz wird öfter fallen beim Besuch des stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten und Chef der Freien Wähler am Freitagabend in Essen. Aiwanger kommt aus Niederbayern, wo die Wiesen grün sind und die Kühe glücklich, um gleich an dieser Stelle ein Klischee zu bedienen. Zwei Tage ist er „durch das schöne Nordrhein-Westfalen“ getourt, nun macht er in Essen Station, „das früher einmal die Herzkammer des Ruhrgebiets war und jetzt zunehmend zum sozialen Brennpunkt wird“. Der Mann kennt sich aus.

Es ist Aiwangers erster Besuch im Revier. Das Essener Bürgerbündnis (EBB) hat ihn eingeladen, nicht um mit Klischees aufzuräumen, sondern damit Aiwanger sich ein Bild machen kann von „Drogenhandel, Clanstrukturen und dem Niedergang der Innenstadt“, wie es EBB-Fraktionschef Kai Hemsteeg formuliert.

Beim „Löwen“ gibt es nicht einmal Schmalkost, dafür tischt das Essener Bürgerbündnis auf

Aiwanger wiederum will Stimmung machen für die „Freien Wähler“, die er bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr in den Bundestag führen will. Ohne die Stimmen in NRW werde das nicht funktionieren, wird er später am Abend im Handelshof sagen, wo er vor etwa 60 Zuhörerinnen und Zuhörer mit der Ampel-Regierung hart ins Gericht geht. Aiwanger selbst bringt seine Generalabrechnung auf einen kurzen Nenner: „Es ist völlig aus dem Ruder gelaufen, dieses Land.“

Frank Baumeister (r.), Sprecher der Interessengemeinschaft nördliche Innenstadt, klagt Aiwanger sein Leid: In Essens Nord-City gehe es nicht voran.
Frank Baumeister (r.), Sprecher der Interessengemeinschaft nördliche Innenstadt, klagt Aiwanger sein Leid: In Essens Nord-City gehe es nicht voran. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Das Bürgerbündnis verspricht sich mediale Aufmerksamkeit von dem prominenten Gast, was Hemsteeg offen einräumt. Das Kalkül ist aufgegangen, spätestens seit Lars Becker, der Betreiber des „Löwen“ am Kopstadtplatz, Aiwanger zum unerwünschten Gast erklärt hat. Mit Aiwanger sei er „nicht auf einer Wellenlänge“, sagt Becker im Bayerischen Rundfunk. Ja, die Posse schlägt Wellen bis ins ferne München.

„Wo ist dieser Wirt, der mir eine bayerische Mahlzeit serviert hat“, fragt Aiwanger am Rheinischen Platz, wo ein Rundgang durch die nördliche Innenstadt beginnt und wo ihm die Videokameras zur Überwachung der Drogenszene gar nicht auffallen. „Die Videokameras, die bin ich nicht gewohnt“, sagt er augenzwinkernd, als Hemsteeg ihn darauf aufmerksam macht.

Der Interessengemeinschaft nördliche Innenstadt gibt Aiwanger gute Worte mit auf den Weg

Anders als vorher vom EBB, fiel die bayerische Mahlzeit bekanntlich nicht deftig aus. Becker servierte nicht einmal Schmalkost. Deftig waren dafür die Worte des Wirts: Ihm brauche kein bayerischer Landwirt zu erklären, was in der nördlichen Innenstadt los sei. Das übernimmt Frank Baumeister, Sprecher der Interessengemeinschaft nördliche Innenstadt, der Aiwanger auf der Viehofer Straße empfängt. Seit Jahren gehe es in Essens Nord-City nicht voran, klagt Baumeister. Es fehle am politischen Willen und schon an vermeintlichen Kleinigkeiten, etwa an abdeckbaren Müllboxen. Dafür floriere auf der Viehofer Straße der Drogenhandel.

Auf dem Essener Kopstadtplatz wundert sich der Besucher aus Bayern über die Sitzmöbel.
Auf dem Essener Kopstadtplatz wundert sich der Besucher aus Bayern über die Sitzmöbel. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

„Es is a Wahnsinn“, kommentiert Aiwanger, macht ein Foto von den Blumeninseln, die die Interessengemeinschaft auf eigene Kosten aufgehängt hat. Baumeister und seinen Mitstreiten gibt er aufmunternde Worte mit auf den Weg: „Alles Gute und lasst euch nicht unterkriegen.“

Nein, Patentrezepte hat der Besucher aus Bayern nicht mitgebracht. Dafür hat er ein paar gute Ratschläge im Gepäck: Um den Industriestandort zu retten, müssten die Kosten für die Unternehmen runter, das Drogenproblem müsse ernster genommen werden. Denn: Ist das Kind erst mal in den Brunnen gefallen, lasse es sich so schnell nicht mehr retten.

Auf eine Stippvisite beim „Löwen“ am Essener Kopstadtplatz verzichtet der Besucher

Am Kopstadtplatz verzichtet Aiwanger auf eine Stippvisite beim „Löwen“, denn sonst drohe noch eine Anzeige wegen Haufriedensbruchs, sagt er mit ironischem Unterton. Über die Holzpaletten auf dem Platz, die als Sitzgelegenheiten dienen sollen, wundert er sich: „Da hockt sich im Winter doch keiner hin.“

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Zuweilen wirkt Aiwanger beim Spaziergang durch Essens Innenstadt wie ein staunender Besucher aus einer anderen Welt, dann wiederum wie ein gewöhnlicher Tourist. Am Krupp-Denkmal vor der Marktkirche lässt er Erinnerungsfotos schießen. Essens Rathaus kommt ihm vor wie ein Wolkenkratzer. Welchen Eindruck er bei dem Rundgang gewonnen hat, wird er vor dem Handelshof gefragt? „Dass es viel zu tun gibt.“

Vor dem Krupp-Denkmal an der Marktkirche lässt Aiwanger Erinnerungsfotos schießen

Was, legt er vor seinen Zuhörern dar: Illegale Einwanderung sei zu begrenzen, die Binnengrenzen zu schützen. Schließlich habe es schon im Mittelalter Stadtmauern und Nachtwächter gegeben. „Wer Fleisch essen will, den sollte man in Ruhe lassen.“ Und ein Verbrennerverbot sei selbstredend Wahnsinn.

Die Stimmen der 60 Anwesenden dürften den „Freien Wählern“ bei der Bundestagswahl sicher sein. Auch Kai Hemsteeg, der mit dem Bürgerbündnis bei der Kommunalwahl wieder in den Stadtrat will, sieht zufrieden aus. Ja, reden kann er, der Aiwanger Hubert, und das bei allem Ernst in der Sache durchaus unterhaltsam. Als Zuhörer stellt man ihn sich an diesem schweißtreibenden Abend irgendwann in einem niederbayerischen Bierzelt vor und wünscht sich eine Maß zur Hand. Doch es gibt nur Mineralwasser. Es is a Wahnsinn!

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