Rees-Haldern. Die NRZ präsentiert das 41. Haldern Pop Festival: Heute Bandporträts von Chilly Gonzales über Faber und Berq bis Lola Young.

Die zweite Folge der Bandporträts zum 41. Haldern Pop Festival. Die NRZ als Medienpartner hat sich erneut mit einigen sehr spannenden Bands und Musikern beschäftigt. Vom 8. bis zum 10. August steigt das Event und wird sicherlich wieder seine ganz eigene Atmosphäre verbreiten.

So verstehen wir das Erlebnispotenzial

Wie jedes Jahr eine Erklärung: Für jede Band haben wir ein Erlebnispotenzial bewertet. Über Geschmack lässt sich streiten, deshalb versuchen wir nicht eine absolute Wertung abzugeben. Das soll jeder Zuhörer für sich selbst tun. Wir versuchen hier einzuschätzen, wie wahrscheinlich es ist, dass dieses Konzert für Sie zum Erlebnis werden kann.

Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Ist die Musik leicht zugänglich? Gibt’s Ohrwürmer? Ist es eher eine Nischenband? Könnte der Spielort eine Rolle spielen? Wir haben es uns nicht leicht gemacht und trotzdem werden wir sicher nicht immer recht haben. Es ist eine bescheidene Entscheidungshilfe. Zum Auftakt ein außergewöhnlicher Künstler:

Chilly Gonzales: ein Kunstwerk auf zwei Beinen

Chilly Gonzales, ein großer Name abseits des Mainstreams. Der gelernte Jazz-Pianist aus Kanada hat in über 25 Jahren als Musiker unzählige Tonträger veröffentlicht. Sein Werk hat dabei eine ziemliche Bandbreite eingenommen. Anfänglich wurde er durch Elektro- und Popstücke mit Rap-Gesang bekannt, später durch Piano-Stücke von unfassbarer Spielfertigkeit. Gonzales ist eine echte Type, voller Satire, der gerne die Bühne im Bademantel und Pantoffeln betritt. Ein Kunstwerk auf zwei Beinen, eigen, aber faszinierend. Einer, der den Raum einnimmt. Gerne spielt er mit anderen Musikern zusammen, tat dies etwa mit Daft Punk, Jarvis Cocker (Pulp) oder Helge Schneider, denn er lebt in Köln. Welche Stilrichtung er spielt, ist eigentlich zweitrangig: Es geht um das Wie! Er weiß ein Gefühl in Musik zu verpacken. Musik wie: der Schulunterricht, den man sich immer gewünscht hätte. Erlebnispotenzial: 5/5 Sterne.

Hörproben: „Gogol“, „Take Me to Broadway“, „Hotel California“ (Live).

DIESE BAND FÄLLT AUS Die Indie-Band One Sentence Supervisor, aus Baden stammend und in der Schweiz lebend, hat in 2024 ihr viertes Album „Temporäre Musik 20-29“ veröffentlicht. Das Album ist wie eine lange Reise im Zug, man sieht die Landschaft vorbeiziehen und findet innere Ruhe. Der Zuhörer wird Teil eines Films. Der Sound ist treibend, von abwechslungsreichen Rhythmen geprägt, hymnischer Gesang, verträumt. Es ist eine Mischung aus Psych-Rock und Psychedelic Pop. Sicherlich eine Musik, der ein intimer Rahmen hilft. Musik für: die innere Reise. Erlebnispotenzial: 3/5 Sterne.

Hörprobe: „Worth the While“, „Freeze Fight Flight“, Onomatopeia“ (live mit Bahur Ghazi).

Mit One Sentence Supervisor ist eine Band fürs Haldern Pop ausgefallen, weil der Gitarrist Vater wird und das kleine Wunder nicht verpassen möchte. Aber die Festivalmacher haben schon Ersatz gefunden: Obliecht aus der Schweiz. Und damit bleibt ein Hauch One Sentence Supervisor erhalten, denn Donat Kaufmann spielt in beiden Bands. Zu hören ist ein sphärischer Elektro-Indie-Pop, den man sich vor dem geistigen Auge schon in Nebelschwaden vorstellt. Die Sprache gleich doppelt verzerrt: zum einen technisch, zum anderen ist Schwytzer Dütsch ja irgendwie verzerrtes Deutsch. Musik für: verträumte Sommertage. Erlebnispotenzial: 2/5 Sterne.

Hörproben: „Aimée“, „Power Ranger“, „Heat“.

One Sentence Supervisor haben in 2024 ihr viertes Album veröffentlicht.
One Sentence Supervisor haben in 2024 ihr viertes Album veröffentlicht. © Haldern Pop | ziskastaubli

Barak Obama hat Angélica Garcia auf dem Schirm

Im Juni erscheint das dritte Album „Gemelo“ von Angélica Garcia aus den USA. Ihr zuletzt meist spanisch-sprachiger Indie-Pop klingt modern, wandelt zwischen Bombast und Delikatesse. Die Stimme erreicht eine ordentliche Bandbreite, wird auch verspielt eingesetzt. Ältere Stücke sind teils rockiger oder poppig-verspielter, tanzbar und allein wegen der Beats mitreißend. Die neuen Stücke sind auch tanzbar, aber reifer, sinnlicher, Garcia setzt mehr auf Sexappeal. Schon Barak Obama setzte diese Musikerin auf seine weithin beachtete Liste. Musik für: Leben in der Hüfte. Erlebnispotenzial: 3/5 Sterne.

Hörprobe: „Juanita“, „El Que“, „Karma the Knife“.

Die englische Liedermacherin Billie Marten packt den Zuhörer sofort mit ihrer besonderen Stimme. Ihre sanften Balladen und Pop-Stücke bieten einige Finessen, reichlich Zerbrechlichkeit, aber auch Wärme. Musikalisch sind meist sanfte Gitarren- oder Piano-Klänge zu hören. Nicht zu erwarten ist eine große Variabilität. Das ist entweder das Lieblingsmüsli oder eben nicht. Auf der richtigen Bühne mit einem aufmerksamen Publikum, könnte Marten zünden. Moment, klingt das nicht nach typisch Haldern Pop? Musik für: Verliebte, die ihr Gefühl unterstreichen wollen. Erlebnispotenzial: 2/5.

Hörproben: „God Above“, „Vanilla Baby“ (Our Vinyl Session; Live), „Milk & Honey“.

Ganz spannende Künstlerin: Lola Young

Lola Young aus England kommt zum Haldern Pop.
Lola Young aus England kommt zum Haldern Pop. © Haldern Pop | Amy Peskett

Diese Stimme sticht sofort heraus. Lola Young klingt beseelt, energetisch, leicht rauchig, trotzdem unschuldig; ja, manch einer fühlt sich an Adele erinnert. Die Engländerin spielt zudem einen leicht zugänglichen Pop mit ins Mark gehenden Beats. Pfiffige Hooklines bleiben hängen. Dazu Prisen Hip Hop, R‘n‘B und Soul. Manch eine melancholische Ballade hat sie auch zu bieten. Kompositorisch sind da einige überraschende Wendungen. Spannend. Musik für: jene, die ihren Pop durchdacht mögen. Erlebnispotenzial: 4/5 Sterne.

Faber hat in Haldern schon diverse Steine in diversen Brettern.
Faber hat in Haldern schon diverse Steine in diversen Brettern. © Haldern Pop | Justus von Karger

Hörproben: „Conceited“, „Don‘t Hate Me“, „What Is it About Me“.

Faber. Muss man dem Haldern Pop Publikum noch mehr sagen? Man hat ihn ja sozusagen musikalisch mit aufwachsen gesehen. Der Schweizer mit dem besonderen Wortwitz, multilingual, dessen Texte kein Tabu kennen, der sich musikalisch zwischen Pop und Chanson eine eigene Nische geschaffen hat, er kommt zurück. Magisch wird‘s oft, wenn die Bläser einsteigen. Die ohnehin fantastische Stimme scheint weiter zu reifen wie guter Whiskey. Live weiß er ein Publikum zu packen. Haldern ist willig, pack zu! Musik: spannend wie eine geheime Affäre. Erlebnispotenzial: 5/5 Sterne.

Hörproben: „Du kriegst mich nicht zurück“, „Top“, „Wen Du‘s heute kannst besorgen“.

Berq ist ein großes Talent

Berq weiß zu berühren.
Berq weiß zu berühren. © Haldern Pop | Felix Aaron

„Fuck, Du tust mir weh“, singt Berq in seinem bärenstarken Song „Rote Flaggen“. Aber dieser Song bereitet Freude. Herrlich, diese Melancholie. Der aus Hamburg stammende Berliner scheint ein großes Talent zu sein. Die Stimme, im Charakter selten gehört. Die Texte, in einer zeitgenössischen Wortwahl und jungen Singart präsentiert, erregen Aufmerksamkeit. Das sind echte Herz-Hymnen, die Berq mit seinen Popstücken präsentiert. Nach der Debüt-EP „Rote Flaggen“ 2023 darf man sich auf ein Album freuen. Musik wie: Faber, aber auf der anderen Seite der Berge. Erlebnispotenzial: 5/5 Sterne.

Hörproben: „Wenn du weinst“, „Tourettes“, „2 Minuten“.

Wer Jazz liebt, der wird den vielfach ausgezeichneten Michael Wollny als großartigen Pianisten längst wahrgenommen haben. In Haldern wird man das Michael Wollny Trio erleben, das durch Tim Lefebvre am Bass und Eric Schäfer am Schlagzeug komplettiert wird. Auch ein Nicht-Jazz-Fan wird die Spielfertigkeit bestaunen können, das pulsierende Zusammenspiel. Erstaunlicherweise schaffen es Wollnys Alben ob Solo oder mit weiteren Musikern immer wieder in die deutschen Albumcharts. Musik für: ... ganz einfach Jazz-Fans. Erlebnispotenzial: für Jazz-Fans 5/5 Sterne, ansonsten 2/5 Sterne.

Hörproben: „I Loves You Porgy“, „When the Sleeper wakes“, „In Heaven“.

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Der Soul der 60er ist bei Bel Cobain herauszuhören, aufpoliert in einem modernen Gewand. Die sanfte, natürlich soulige Stimme der Britin trägt die Melodien, die aber aufwendig produziert daher kommen. Emotional ist der Einstieg in die Musik nicht ganz einfach; es ist eher ein Tanz an der Oberfläche statt ein Eintauchen. Das könnte an den Jazz-Einflüssen liegen. Musik für: jene die Tanzschritte ohne Gewichtsverlagerung schaffen. Erlebnispotenzial: 2/5 Sterne.

Büşra Kayikçi spielt Klaviermusik, die nicht nur Puristen erfreut.

Hörprobe: „Leader“, „Pressure to Exist“, „Unlikely“.

Bel Cobain
Bel Cobain © Haldern Pop | (...)

Die türkische Pianisitin Büşra Kayikçi studierte Innenarchitektur und Environmental Design. Und tatsächlich hat das ihre Musik beeinflusst, denn es sind vergleichbare Schaffensprozesse mit unterschiedlichen Materialien. Gerne entlockt die in Istanbul aufgewachsene Musikerin technisch veränderten Klavieren neue Klänge. So dürfen sich Haldern Pop Besucher auf eine Klavier-Reise freuen. Aber diese Klavier-Musik fesselt nicht nur Puristen. Musik wie: eine Einladung zum Piano. Erlebnispotenzial: 3/5 Sterne.

Hörproben: „Olive Tree“, „Doğum / Birth“, „Tribute to Egyptian Song“ (Radiohead-Fans hören die Hommage an den „Pyramid Song“ heraus).

Elektronische Musik, fast schon Industrial, mit Hip Hop-Einflüssen bringt Debby Friday aus Kanada auf die Bühne. Passt da ihre soulige Stimme hinein? Ja, das beweist die in Nigeria geborene Künstlerin. 2023 ist ihr Debütalbum „Good Luck“ erschienen, mit dem sie den kanadischen Polaris Music Prize gewonnen hat. Die Beats sind ansteckend und laden zum Tanz ein. Eine gewisse Sinnlichkeit zeichnet den Sound aus. Musik für: die Skalierung des Tanzes. Erlebnispotenzial: 3/5 Sterne.

Hörproben: „So Hard to Tell“, „Safe“, „Hot Love“.

Nichtseattle – eine Hommage an Tocotronic

Experimentelle, instrumentale Klangteppiche rollt das spanische Duo Los Sara Fontan aus. Eine sehr haptische Musik, die jede Ecke und Kante fühlbar macht. Ein 3D-Sound, der einen den Kopf drehen lässt: Wo kommt der Klang jetzt her? Streicher, Percussions, elektrische Sounds, alles mit Effekten neu arrangiert. Nichts, was man aus der Ferne am Bierstand konsumiert, da muss man schon auf Tuchfühlung gehen, um die Musik zu spüren. Musik für: das intimste Hinterzimmerkonzert. Erlebnispotenzial: 2/5 Sterne.

Haldern Pop 2024
Sascha Schlegel
Haldern Pop 2024 Sascha Schlegel © Haldern Pop | Sascha Schlegel

Hörproben: „Wall-e“, „Visita de obra“, „Magaluf“.

Die Berliner Musikerin Katharina Kollmann alias Nichtseattle (eine Hommage an Tocotronic: „Wir sind hier nicht in Seattle“) kommt mit ihrer Band zum Festival. Die pure Melancholie bringt diese Künstlerin zu Gehör. Indie-Rock, Singer-Songwriter, ja, ein bisschen Hamburger Schule nach Berlin gebracht. Kollmanns tiefe Stimme bringt Frust und Hoffnung zueinander. Hat was. Die Texte sind wie ein griechisch-römischer Ringkampf der Worte. Das Hadern wird zelebriert. Musik für: Kopfmenschen, die Gefühle zulassen. Erlebnispotenzial: 3/5 Sterne.

Hörprobe: „Frau sein“, „Ein Freund“, „Fleißig“.

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