Essen. Wenn die Kinder zum Semesterstart in NRW ausziehen, rutschen manche Eltern in eine tiefe Krise. Was gegen das „Empty Nest Symptom“ hilft.
- In NRW startet das neue Semester, für viele junge Menschen beginnt damit eine aufregende Zeit.
- Viele von ihnen ziehen für das Studium erstmals von Zuhause aus. Ihre Eltern kann das in eine tiefe Beziehungskrise stürzen.
- Ein Essener Experte erklärt, was gegen das „Empty Nest Symptom“ hilft.
Eigentlich war zwischen Sarah und David alles gut. Natürlich waren sie sich in mehr als 20 Jahren Ehe nicht immer einig und es kam ab und an zu Streitereien. Aber dass sie nun, da die beiden Kinder aus dem Haus waren und eigentlich eine entspanntere Zeit als Paar beginnen sollte, kurz vor der Trennung stehen – damit hätten sie nicht gerechnet. Für Paartherapeut Rüdiger Wacker ist das allerdings weniger überraschend. In seiner Essener Praxis berät er viele Paare, bei denen der Auszug der Kinder zu einer Beziehungskrise führt.
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Endlich wieder Zweisamkeit, neue Freiheiten und vielleicht sogar mehr Lebensfreude? Von wegen. Während manche Eltern die zurückgewonnene Zeit genießen, rutschen andere in eine Sinnkrise, wenn die Kinder das Haus verlassen. In den 1960er Jahren fanden amerikanische Soziologen einen Begriff dafür: das „Empty-Nest-Syndrom“, also „Leeres-Nest-Syndrom“.
Essener Psychologe über Empty-Nest-Syndrom: Leere-Gefühl und Traurigkeit
Wenn das einzige oder letzte Kind von zu Hause auszieht – wie es nun im Oktober viele junge Menschen tun, um ein Studium zu beginnen – endet auch für ihre Eltern ein wichtiger Lebensabschnitt. In der Regel waren sie fast zwei Jahrzehnte lang für ihre Kinder verantwortlich. Haben ihren Job und ihre Freizeit um die Schule und Hobbys der Kinder herum organisiert, Vokabeln abgefragt, zusammen Filme geschaut und sich über laute Musik und dreckige Wäsche geärgert. Dann sind die Kinder weg und das Haus oder die Wohnung ist auf einmal ruhiger, sauberer – und leerer.
Eltern, die am „Empty-Nest-Syndrom“ leiden, sind laut Rüdiger Wacker meist traurig und melancholisch. „Sie denken an die schöne Zeit zurück. Die leeren Zimmer führen ihnen vor Augen, dass sie nun mehr oder weniger allein sind. Das kann auch zu einem starken Leere-Gefühl führen“, sagt er über den Trennungsschmerz. Hinzu komme die Sorge um das Kind. Schafft es sein Studium? Findet es schnell Anschluss? Kommt es allein in der fremden Stadt und der eigenen Wohnung zurecht?
Kind zieht zum Studium aus – Familiendynamik verändert sich
Gleichzeitig haben Eltern mit dem Auszug des Kindes wieder mehr Zeit für sich – was allerdings auch zu Problemen führen kann. „Auf einmal stört einen dann etwas am anderen, was einen nie gestört hat, weil man sich auf einmal wieder mehr wahrnimmt und nicht das Kind quasi dazwischen steht“, so Wacker. Der Auszug des Kindes sei daher ein entscheidender Punkt in der Beziehung vieler Eltern.
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Bei Sarah und David veränderte sich mit dem Auszug die Familiendynamik. Das führte zu Konflikten. „Die Tatsache, dass ihre Kinder ausgezogen waren, brachte sowohl Sarah als auch David dazu, sich Fragen über ihre eigenen Bedürfnisse, Wünsche und die Zukunft ihrer Beziehung zu stellen“, erzählt Paartherapeut Wacker. Das Paar stritt so häufig, dass Sarah schließlich über eine Trennung nachdachte – und gemeinsam mit ihrem Mann Wackers Praxis aufsuchte.
In der Therapie gehe es zunächst darum, zu lernen, wie man Konflikte lösen kann, und den Eltern zu verdeutlichen, dass ihre Gefühle normal sind und sie die Trauer zulassen dürfen „Trauer lässt sich nicht dauerhaft ausblenden“, betont Wacker. Im nächsten Schritt sei es wichtig, die Vorteile des Auszugs zu vermitteln. „Der Auszug des Kindes kann auch Erleichterung und neue Freiheit bedeuten. Das versuche ich, den Paaren zu zeigen.“
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Damit Eltern diese Freiheit genießen können, sei es zum einen wichtig, dass jedes Elternteil sich individuell fragt: Was brauche ich persönlich? Was tut mir gut? Das könne bedeuten, dass man einen neuen Sportkurs beginnt, wieder häufiger Freundinnen und Freunde trifft oder eine fremde Sprache lernt. „Man kann nicht allein auf der Paarebene alle Gefühle bewältigen und alle Probleme lösen, deshalb ist es wichtig, dass jeder für sich Dinge findet, die ihm gut tun“, so Wacker.
Essener Experte: Mehr Paarzeit auf die Tagesordnung bringen
Gleichzeitig komme es darauf an, sich als Paar im Alltag neu zu finden. Nur weil das Kind nicht mehr mit am Tisch sitzt, muss das zum Beispiel nicht bedeuten, dass jedes Elternteil nun allein zu Abend essen muss. Im Gegenteil: Man sollte an lieb gewonnen Ritualen festhalten – und zusätzlich neue etablieren. „Es gilt, die Paarzeit mehr auf die Tagesordnung zu bringen“, so Wacker. Er rät Paaren, sich ein gemeinsames Hobby zu suchen, wie etwa einen Tanzkurs, oder zusammen neue Projekte anzugehen.
Ein weiterer Tipp des Experten: klassische Date-Nights. „Der englische Begriff ist missverständlich. Man muss sich natürlich keinesfalls nur für den Abend verabreden. Es ist genauso gut, wenn man zum Beispiel etabliert, jeden Freitag zusammen frühstücken zu gehen.“
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Mit dem Auszug der Kinder verändere sich außerdem das Sexleben vieler Paare – meist zum Positiven: „Es kann im ersten Moment schwierig sein, wieder da rein zu finden. Aber insgesamt spielt Sex für viele wieder eine wichtigere Rolle, weil im Nachbarzimmer eben nicht mehr das Kind wohnt und man nicht mehr besonders leise sein muss oder nur zu gewissen Zeiten Sex haben kann.“
Beziehungskrise kann zu Affären oder der Scheidung führen
Wenn Paare aufeinander Acht geben und offen über ihre Gefühle reden, schaffen es die meisten, das „Empty Nest Syndrom“ ohne große Komplikationen zu überwinden. Dabei komme es vor allem darauf an, wie sie generell miteinander umgehen und wie sie in der Vergangenheit ihre Beziehung gestaltet haben. Waren die Kinder der einzige Grund, überhaupt zusammen zu bleiben? Wurden Konflikte kleingeredet, Wünsche ignoriert? Oder hat jeder Raum für sich bekommen, konnte eigenen Zielen nachgehen? Und haben beide – trotz der Kinder – an ihrer Liebesbeziehung gearbeitet?
„Manchmal kann der Auszug des Kindes ein Wendepunkt in der Beziehung sein, der zu Affären oder gar der Scheidung führt. Aber er stürzt natürlich längst nicht jedes Paar in eine Krise. Im Gegenteil“, hält Rüdiger Wacker fest. Sarah und David konnte der Paartherapeut dabei helfen, wieder zueinander zu finden und ihr Leben zu genießen. Ganz ohne die Kinder im Haus.
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