Essen/Dortmund/Witten. Übergriffe und Belästigungen in Clubs, auf Konzerten und Festivals kennen viele. Eine Initiative aus dem Ruhrgebiet will Events sicherer machen.

Die unerwünschte Hand am Po, rassistische Beleidigungen und Räume, die nicht mit einem Rollstuhl zu erreichen sind. Egal ob Club, Festival oder Ausstellung – häufig fühlen sich Menschen auf Veranstaltungen nicht sicher. Genau deswegen gibt es zunehmend sogenannte Awareness-Teams, also Aufmerksamkeits-Beauftragte. Zu einem davon gehört Sören Meffert (26), den wir auf einer Tischtennisplatte am Steinbruch Imberg in Witten treffen, während er seinen Blick über das Gelände des „Feel Leicht“-Festivals schweifen lässt. Er ist Teil des Awareness-Kollektivs „Em und Em“ aus Dortmund. Diskriminierendes oder grenzüberschreitendes Verhalten wie etwa sexuelle Belästigung wollen sie verhindern. Zusammen mit Emre Bayanbas (25) erzählt er von seiner Arbeit.

Em und Em: Wer steckt hinter dem Kollektiv?

Menschen, die jung, weiblich, nicht weiß und queer sind, erfahren verschiedenen Studien zufolge am häufigsten Übergriffe und Belästigungen. Jede dritte Frau sei mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen, teilt das Bundesfamilienministerium. Unweit höher muss die Zahl sein, wenn es um sexuelle Belästigung, also ungewollte Berührungen, Bedrängung, Verfolgung geht. Die drohen besonders auf Veranstaltungen.

„Ich hätte mir selber gewünscht, dass es ein solches Konzept gibt und wünsche es mir noch heute.“

Emre Bayanbas (25), Mitbegründer von dem Awareness-Kollektiv „Em und Em“

Deshalb gibt es Awareness-Kollektive wie „Em und Em“, das im April 2023 von Emre Bayanbas und Emilie Jelinek gegründet wurde, Workshops zu dem Thema anbietet und bei Veranstaltungen vor Ort ist, um diese sicherer zu machen. „Wir alle haben eigene Erfahrungen mit Rassismus, Diskriminierung oder sexuellen Übergriffen gemacht“, sagt Emre. Mittlerweile gehören zehn Personen zu dem Team. Die Mitglieder sind Flinta (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen), BIPoC (Black People, Indigenous People und People of Colour) und queer, bezeichnen sich als mehrfach marginalisiert. Weil die Themen sie beschäftigen, wollen sie Sichtbarkeit schaffen. „Ich“, sagt Emre, „hätte mir selber gewünscht, dass es ein solches Konzept gibt und wünsche es mir noch heute.“

Begriffserklärungen: Flinta, BIPoC und queer

Das Akronym Flinta steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans Personen und Menschen, sie sich ohne Geschlechtsidentität erleben (agender). Mit dem Begriff wird versucht, einen Ausdruck für eine Personengruppe zu finden, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert wird.

BIPoC (Schwarze, Indigene und Menschen of Color) ist eine Selbstbezeichnung von und für Menschen mit Rassismuserfahrungen. Sie beschreibt also einen gemeinsamen Erfahrungshorizont, den Menschen teilen, die nicht als weiß, deutsch oder westlich wahrgenommen werden und sich selbst nicht so definieren.  

Queer ist ein Sammelbegriff für Personen, deren geschlechtliche Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht der zweigeschlechtlichen, cis-geschlechtlichen und/oder heterosexuellen Norm entspricht.

„Awareness bezeichnet das Bewusstsein und die Aufmerksamkeit für Situationen, in denen Grenzen anderer überschritten werden oder wurden“, schreibt das Kollektiv auf Instagram. Das können Diskriminierung, sexualisierte und rassistische Gewalt, aber auch Drogenkonsum sein. Alles Aspekte, die dem Wohlbefinden einer Person entgegenstehen können. Einen Großteil der Arbeit machen sie unentgeltlich. Bekommen sie Geld, fließt das meistens zurück in den Verein. 

Awareness: Was mit dem Konzept gemeint ist und wie es umgesetzt wird

Awareness beginnt nicht erst auf dem Event. Gemeinsam entscheide das Kollektiv, ob eine Anfrage angenommen wird. Abgelehnt werden jene, die nicht mit ihren Prinzipien übereinstimmen und bei denen sie eine Gefahr für sich sehen. Ein Dilemma, denn häufig sind genau das die Veranstaltungen, auf denen mehr Vorfälle gibt als auf anderen. Doch für sie ist klar: Sie wollen sich nicht instrumentalisieren lassen. Wenn sie das Gefühl haben, dass eine Kooperation mehr „Schein als Sein“ ist, es mehr um die Außenwirkung geht als um eine tatsächliche Veränderung, gehen sie diese nicht ein. Daher auch die Vorgespräche.

Erst dann „besprechen wir mit den Veranstaltenden, wie ein möglichst sicherer Raum für alle gestaltet werden kann“, so Sören. Dazu gehören Themen wie barrierefreie Toiletten, die Auswahl der Künstlerinnen und Strukturen im Veranstaltungsteam. Die Liste eines „Awareness-Konzepts“ ist lang.

„Wir wollen sicherstellen, dass es eine feste Anlaufstelle gibt, wenn es jemandem nicht gut geht.“

Emre Bayanbas (25), Mitbegründer von dem Awareness-Kollektiv „Em und Em“

Am Tag der Veranstaltung ist das dreiköpfige Team um Emre schon Stunden vorher vor Ort, um potenzielle Gefahren wie enge, abgelegene Räume zu identifizieren. Danach gilt es, präsent für die Gäste zu sein. Ein Post auf Instagram, Aushänge auf dem Gelände, Ansagen auf der Bühne: Über diverse Kanäle erfahren sie von dem mobilen Team, das durch eine lilafarbene Weste erkennbar ist. „Wir wollen sicherstellen, dass es eine feste Anlaufstelle gibt, wenn es jemandem nicht gut geht“, sagt Emre. Ein Zelt neben der Bühne dient als Zufluchtsort. Es gibt Getränke, Snacks und Sitzgelegenheiten.

Em und Em Kollektiv auf dem Feel Leicht Festival in Essen
Immer häufiger sind Awareness-Teams auf Veranstaltungen wie Festivals unterwegs. © WAZ - Kultur | Jana Beringer

„Es gibt Situationen, in denen wir selbst etwas beobachten, in denen Betroffene zu uns kommen oder Dritte, die etwas gesehen haben.“ Was als Übergriff gilt, hängt davon ab, wie die betroffene Person die Situation wahrnimmt. Das heißt: Wenn sich eine Person damit wohlfühlt, von hinten angetanzt zu werden, ist das in Ordnung. Fühlt sich jemand dabei unwohl, ist das ein Problem. „Wir handeln so, wie die Betroffenen es brauchen“, sagt Emre. Sie entscheiden, was als Nächstes passiert – sei es, den Ort zu wechseln oder die Person durch die Security verweisen zu lassen.

Doch es müssen nicht immer rassistische, sexistische oder diskriminierende Vorfälle sein. Das Team ist generell da, wenn es Menschen schlecht geht, sei es wegen Drogenkonsum oder Wassermangel bei erbarmungsloser Hitze. Dann gehe es auch mal darum, Wasser oder Ohropax zu verteilen.

„Wir sind darauf angewiesen, dass sich Menschen solidarisch verhalten, hinschauen und nicht wollen, dass andere verletzt werden.“

Sören Meffert (26), Teil von dem Awareness-Kollektiv „Em und Em“

Trotz aller Bemühungen habe ihre Arbeit Grenzen. „Wir sind zu dritt hier, auf einem Festival mit 150 Menschen. Natürlich werden wir nicht alles mitbekommen.“ Für Sören ist daher klar: „Wir sind darauf angewiesen, dass sich Menschen solidarisch verhalten, hinschauen und nicht wollen, dass Andere verletzt werden.“

Kann ein Awareness-Team auf einer größeren Veranstaltung funktionieren?

Die Atmosphäre auf dem „Feel Leicht“-Festival ist familiär, das Gelände überschaubar. Kinder tanzen vor der Bühne, während ihre Eltern Haarbänder basteln. Also, wie lässt sich das Konzept auf größere Events übertragen? Das gesamte Team, so Emre, von der Reinigungskraft bis zum Sicherheitspersonal, müsse geschult und sensibilisiert werden, um Gefahrensituationen frühzeitig zu erkennen. Natürlich brauche es auch mehr Awareness-Personen, die über Funk miteinander in Kontakt stehen. „Bei 25.000 Zuschauenden wie auf dem Public Viewing im Westfalenpark“, verdeutlicht Sören, „kann ein Team aus zwei Personen nicht alles abdecken.“ Und dann kommt Emilie und fragt nach Unterstützung. Sie habe gerade einen alkoholisierten Mann wegschicken müssen.

Em und Em Kollektiv auf dem Feel Leicht Festival in Essen
Das Dortmunder Kollektiv „Em und Em“ ist in NRW und ganz Deutschland unterwegs. Das Ziel von Sören Meffert (26), Emre Bayanbas (25) und Emilie Jelinek (v. li.): Veranstaltungen sicherer machen. © WAZ - Kultur | Jana Beringer

Auch in Clubs und anderen Kulturorten müsse sich etwas ändern. „Gerade in Clubs haben viele Besitzerinnen und Besitzer eine Vorstellung, wer hereindarf und wer nicht.“ Da brauche es mehr Transparenz. „Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit einem unsensibilisierten Sicherheitspersonal, dem selbst Rassismus vorgeworfen wird?“, fragen sie. Um das abzufedern, sei „Em und Em“ auch immer wieder als „Tür“ unterwegs. Denn oftmals verhalten sich Türsteher schroff und abschreckend. Dabei sei gerade der Einlass eine Chance, Hemmschwellen abzubauen, nach Hilfe zu fragen. Doch am Ende obliege es dem jeweiligen Veranstalter, ob ein Awareness-Team eingesetzt wird, das teilt auch eine Sprecherin des NRW-Ministeriums für Kultur und Wissenschaft mit.

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