Hamburg. Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard über das Rückgrat der Wirtschaft, die Köhlbrandbrücke – und was ihr derzeit den Atem raubt.
Ist das nun das Ende einer großen Liebe oder nur die notwendige neue Nüchternheit im Umgang mit dem Hafen? Seit Monaten mehren sich die kritischen Einschätzungen zur Zukunft von Hamburgs Institution, häufen sich negative Geschäftszahlen, und manche fangen schon offensiv an, die 7200 Hektar des Hafens – immerhin ein knappes Zehntel der Hamburger Gesamtfläche – neu zu verplanen. Der Schweizer Stadtforscher Thomas Sevcik riet der Stadt kürzlich, die Zukunft des Hafens besser ohne Hafen zu planen.
Hamburgs Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard hält im Podcast „Was wird aus Hamburg?“ die Gegenrede. Die 46-Jährige ist in der schwersten Wirtschaftskrise seit 15 Jahren in die Behörde am Alten Steinweg gezogen. Statt Erfolgsmeldungen zu verkünden, muss sie Krisenmanagement betreiben.
Hamburger Hafen: Melanie Leonhard kann Krise
„Mir haften die Krisen zum Beginn neuer Tätigkeiten offenbar an“, sagt die SPD-Politikerin aus Harburg mit Blick auf ihre Karriere. Als sie 2015 Sozialsenatorin wurde, begann die Flüchtlingskrise – als sie 2020 zusätzlich das Gesundheitsressort übernahm, eskalierte die Corona-Pandemie. „Das scheint mein Schicksal zu sein“, sagt sie. „Eine Krise ist etwas, das man bewältigen muss, und zwar jeden Tag. Es hilft nichts, sich auf dem Sofa unter die Decke zu legen und zu hoffen, dass es an einem vorbeizieht. Da hilft nur Arbeit.“
Derzeit steht sie im Fokus der anschwellenden Hafen-Diskussion. „Der Hafen ist wichtiger für die Stadt, als manche Debatten erahnen lassen: Er prägt Hamburg“, betont die Landesvorsitzende der SPD. Sie kritisiert die verkürzte Debatte und die Fokussierung auf schlechte Zahlen.
„Umschlag beispielsweise ist kein Selbstzweck, Über den Hafen kommen Rohstoffe, Vorprodukte oder Waren in die Stadt, die hier gehandelt oder weiterverarbeitet werden: Das macht die Stärke des Standortes aus, deshalb lohnt die Produktion hier trotz vergleichsweise hoher Grundstückspreise oder hoher Arbeitskosten.“
Warum ohne den Hafen mancher Frühstückstisch leer bliebe
Leonhard, die an der Universität Hamburg mit einer Arbeit über die Entwicklung des Familienunternehmens Rickmers promoviert hatte, nennt ein Beispiel: „Deutschland ist der zweitgrößte Kaffeeimporteur, aber zugleich der sechstgrößte Exporteur, ohne eine einzige Kaffeebohne zu ernten. Von Hamburg hängt ab, ob in Österreich oder Tschechien Kaffee auf den Tisch kommt.“
Den Hafenkritikern schreibt sie ins Stammbuch: „Am Hafen hängt viel mehr als der Hafen selbst. Das sollten sich alle stärker bewusst machen.“ Weit mehr als 100.000 Arbeitsplätze in der Stadt, sagt die Senatorin, sind direkt oder indirekt vom Hafen abhängig. „Es ist etwas kurz gesprungen, nur den direkten Umschlag an der Kaikante zu betrachten. Dem Hafen kommt eine zentrale Rolle zu bei der Versorgung der Bevölkerung.“
Sie ärgert, dass die Hafenlobby so still geworden ist und inzwischen die Kritiker die Debatte bestimmen. Mit Verweis auf Gunther Bonz, den Präsidenten des Unternehmensverbandes Hafen Hamburg, als hörbare Stimme des Hafens sagt die Senatorin: „Herr Bonz und ich allein reichen da manchmal nicht.“ Leonhard wird grundsätzlich: „Zu vielen ist zu vieles selbstverständlich geworden: Ich hatte die Hoffnung, dass Corona und die leeren Regale den Menschen bewusst machen, welche Rolle die Logistik in unserem Leben spielt. Das ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, aber meine Rolle ist auch, daran zu erinnern.“ Das gelte ausdrücklich auch für ihre Arbeit im rot-grünen Senat.
Die SPD-Politikerin sieht auch Hausaufgaben in Hamburg
Leonhard widerspricht, dass der Hafen derzeit durch die schwerste Krise seit den 80er-Jahren geht. Die Zahlen aber sind schwach: Die Terminals schlugen 2022 fast sieben Prozent weniger um, im ersten Halbjahr 2023 ging es weiter bergab. „Der Hafenumschlag ist immer ein Spiegel der Konjunktur“, sagt sie. Schon in der Finanzkrise 2008/09 sei der Umschlag dramatisch eingebrochen. „Davon hat sich in Deutschland kein Hafen mehr erholt. Jede Veränderung der weltpolitischen Lage oder der weltwirtschaftlichen Lage spiegelt sich im Hafenumschlag. Im Moment verändert sich beides.“
Das Hafenranking der Weltbank, das Hamburg nur noch auf Platz 328 unter 348 Häfen führt, solle man nicht missverstehen: „Es bildet Liegezeiten ab. Häfen am Ende einer Schifffahrtsroute und Tidehäfen haben längere Liegezeiten – hinzu kommen längere Revierfahrten.“
Hamburger Hafen: Wertverfall der HHLA trifft jeden Hamburger
Diese sind ökologisch und logistisch von Vorteil, weil die Waren besser ins Landesinnere zu den Endabnehmern gelangen und Lkw-Fahrten entfallen. Sie sind aber von Nachteil, wenn es um die Kosten geht – der Hafen gilt als zu teuer. „Da müssen wir die Leistungsfähigkeit der Umschlagbetriebe und der Hafenverwaltung im Blick behalten und stetig verbessern. Da haben wir Hausaufgaben.“
Eine der Hausaufgaben hat direkt mit den Finanzen zu tun: 69,25 Prozent der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) gehören der Stadt. Diese Perle verblasst: Der Umsatz sank im ersten Halbjahr um 6,7 Prozent, der operative Gewinn hat sich mehr als halbiert. Der Wert der HHLA-Aktien, die der Stadt gehören, liegt noch bei rund 520 Millionen Euro – in der Euphorie des Börsengangs 2007 waren es mehr als drei Milliarden. „Die Welt hat sich seither dramatisch verändert. Seitdem haben es die deutschen Häfen schwerer“, konstatiert Leonhard.
Die Senatorin fordert mehr Unterstützung aus Berlin für die Häfen
Erst kam die Finanzkrise, dann die Investitionen der Wettbewerber in Rotterdam und Antwerpen, die Umwälzungen und Fusionen im Reedereigeschäft, wachsende Schiffsgrößen, das endlose Tauziehen um die Elbvertiefung. Hamburg, der Wachstumsstar der Nuller-Jahre, wurde abgehängt.
Das hat Konsequenzen: „Eine nationale Hafenstrategie, die diesen Namen auch verdient, ist unabdingbar. Anders lassen sich die Herausforderungen nicht meistern“, sagt sie Richtung Berlin. Die nötigen Investitionen könnten die drei Bundesländer Bremen, Hamburg und Niedersachsen nicht allein stemmen. „Wir brauchen eine bessere Verzahnung und Zusammenarbeit. Aber die hat auch Grenzen: Ladung folgt nicht politischen Restriktionen, sondern wirtschaftlicher Logik.“
Hamburg bleibe schon allein wegen der großen Abnehmer in der Region ein wichtiger Zielhafen. „Kein Transporteur steuert Wilhelmshaven oder Bremen an, um Waren dann noch stundenlang per Lkw weiter zu transportieren.“ Inzwischen stellt die SPD-Senatorin eine bessere Wahrnehmung der Hafeninteressen in Berlin fest – wenig überraschend, wo doch mit Olaf Scholz ein Hamburger und ihr alter Chef zugleich im Kanzleramt sitzt. „Interessanterweise hat die Debatte um die Cosco-Beteiligung an der Betriebsgesellschaft des Terminals Tollerort die Sensibilität erhöht: Nun weiß man um die Wichtigkeit der Häfen für die deutsche Wirtschaft.“ Zugleich blieben aber Defizite: „Es bleibt mühevoll, hafenpolitische Themen auf die Agenda zu setzen.“
Hamburger Hafen: Friendly fire aus Berlin von den Genossen
Erst kürzlich erzürnte Bettina Hagedorn (SPD), die stellvertretende Vorsitzende des Haushaltsausschusses im Bundestag, ihre Parteifreunde in Hamburg mit der Aussage, wer glaube, der Bund werde die Hafenautobahn A26-Ost und die neue Köhlbrandquerung finanzieren, habe „den Schuss nicht gehört“. Die Sozialdemokraten der Elbe empfanden das als friendly fire.
„Einerseits ärgert man sich, auf der anderen Seite muss man gelassen bleiben, um die Sachen über die Ziellinie zu tragen.“ Die Bundesregierung wolle die Länder bei Verkehrsinfrastrukturprojekten gleich behandeln. „Hier geht es aber nicht um Hamburger Interessen, sondern die Rolle der Häfen für ganz Deutschland.“ Das, wovon das ganze Land profitiert, könne Hamburg nicht allein aus der kommunalen Kasse finanzieren. „Das müssen sich die Berliner gefallen lassen, dass wir ihnen das dann deutlich sagen.“
Leonhard glaubt an die Köhlbrandquerung und die A26
Leonhard zeigt sich überzeugt, dass beide Großprojekte kommen – die Köhlbrandquerung sowie die A26. Die Hafenautobahn könne sogar zeitnah fertig werden, die Planfeststellung noch im laufenden Jahr kommen. „Wir sind viel weiter als andere Projekte, die auf der Liste für die Planungsbeschleunigung stehen. Bis zu den Hamburger Grenzen ist die Autobahn fertig und zumindest der erste Bauabschnitt bis zur Anbindung an die A7 kann sehr zügig kommen. Das wäre schon ein großer Gewinn für Hamburg.“ Sehr zügig heißt spätestens 2031.
Einen Erhalt der Köhlbrandbrücke hält die Senatorin hingegen für nicht sinnvoll: „Ich kann gut verstehen, dass man diese Brücke wunderschön findet – sie ist in den letzten 40 Jahren Teil unserer Skyline geworden. Ich mag die Brücke auch.“ Die Fakten aber seien nicht zu leugnen: Jeden Tag nutzen sie 12.000 bis 15.000 Lkw.
Die alte Köhlbrandbrücke ist kaum zu retten
„Das ist eine ziemliche Belastung, und auch das nun zitierte Gutachten von 2008 sagt, dass der Erhalt langfristig wirtschaftlich nicht nachhaltig ist.“ Schon heute sei die Nutzung erheblich eingeschränkt, betont die Senatorin „Mit großen Investitionen von über 60 Millionen Euro im Jahr 2016 haben wir uns nur ein bisschen Zeit erkauft. Langfristig haben die Brücke und das Gutachten eins gemeinsam: Sie sind nicht mehr stark belastbar. Und deswegen brauchen wir eine neue Lösung.“ Derzeit prüft ihre Behörde, ob stattdessen eine neue Brücke oder ein Tunnel entstehen soll.
Die Debatte um die Köhlbrandbrücke passt symbolisch für die Sicht auf den Hamburger Hafen: Ein hübsches Denkmal, das aber nichts kosten soll. „Wenn wir nicht aufpassen, wird uns der Hafen auch nicht als Kulisse mit Möwen und schönen Hafenkränen erhalten bleiben. Der Hafen ist kein Industriedenkmal, sondern wichtig für die Stadt.“
Wirtschaftssenatorin in Sorge um die Industrie
Ebenfalls wichtig für Hamburg ist die Industrie, die mit einem Anteil von rund einem Fünftel der Wirtschaftsleistung gewichtiger ist als in anderen Metropolen. Diese Stärke war das Ergebnis einer Hamburger Politik, die über Jahrzehnte auf günstige Energiepreise gesetzt hat. Diese sind nun Geschichte. „Wir brauchen Industrie in Hamburg. Die Branche hat derzeit viele Herausforderungen vor der Brust, nicht nur die Strompreise, sondern auch steigende Rohstoffkosten und fehlende Fachkräfte.“ Hinzu komme der sogenannte Inflation Reduction Act, ein gewaltiges, 370 Milliarden Dollar schweres Programm der US-Regierung, das den Wettbewerb verzerrt und Investitionen in die Staaten umleitet. „Dieses Subventionsprojekt raubt einem den Atem.“
Hamburger Hafen: Die überstürzte Stilllegung von Moorburg hält sie für einen Fehler
In diesem Umfeld sei eine Senkung der Strompreise wichtig, etwa über einen Industriestrompreis oder reduzierte Netzentgelte für kritisch relevante Rohstoffherstellung: „Wenn die erneuerbaren Energien ausgebaut werden, werden die Preise fallen – aber in einer Übergangszeit von fünf bis zehn Jahren müssen wir gut aufpassen, dass unsere Industrie nicht ins Hintertreffen gerät.“
Kritisch sieht Leonhard inzwischen die Stilllegung des modernen Kohlekraftwerks Moorburg 2021. „Ich glaube, dass selbst mancher Gegner die Entscheidung der Abschaltung womöglich anders oder gern ein zwei Jahre später getroffen hätte, sofern man gewusst hätte, wie sich die globale Situation verändert“, sagt sie.
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Für Hamburg und den Norden berge die Energiewende aber große Chancen, betont die Senatorin. „Wir haben hier die Großverbraucher in der Industrie als Nachfrager und das Potenzial für den Ausbau von Windenergie vereint. So ergeben komplexe Systeme wie die Wasserstoffwirtschaft Sinn.“ Der Standort Hamburg sei stark und innovativ zugleich – erst in den vergangenen Monaten habe sich die MAN-Tochter H-TEC Systems in Hamburg angesiedelt, die Elektrolyseure und Elektrolyse-Slacks herstellt.
Und der Schrottrecycler European Metal Recycling (EMR) baut eine Batterie-Recyclinganlage in Billbrook. „Diese Projekte mögen unter dem Radar laufen, sind aber wichtig für die Zukunft“, sagt Leonhard. „Wir sind überall stark, wo wir Forschung und Industrie verknüpfen. Darauf sollten wir noch stärker setzen.“ Hamburg habe viele Standbeine, sei eine attraktive Stadt, ein beliebtes Reiseziel und ein attraktiver Standort. „Und das alles hat wesentlich mit dem Hafen zu tun.“