Kaum jemand hat so viele Wasserfahrzeuge fotografiert wie Thomas Kunadt. Jetzt hat er ein Bestimmungsbuch geschrieben.
Abendsonne fällt auf den massigen Schiffsrumpf des Containerriesen „CMA CGM Marco Polo“, der am Burchardkai festgemacht hat. „Sehen Sie sich das an: Aus dieser Perspektive zeichnen sich schön die Nähte der Stahlplatten ab, aus denen die Bordwand geschweißt wurde“, schwärmt Thomas Kunadt an Bord einer Barkasse, die im Größenvergleich wie eine Ameise wirkt. Kunadt ist Hamburgs bekanntester Schiffsspotter, das heißt, er fotografiert und beobachtet leidenschaftlich Schiffe – meist auf der Elbe. Der geborene Sachse macht das seit 1996. Sein Archiv umfasst Porträts von 142.000 Schiffen von mehr als 600 Reedereien.
Man sollte meinen, Kunadt habe inzwischen alles „im Kasten“, was sich die Elbe hinauf und hinab bewegt. Fehlanzeige. „Jeden Tag laufen ein bis zwei Schiffe Hamburg an, die noch nie hier waren“, sagt der Fotograf, der seine Leidenschaft längst zum Beruf gemacht hat. „Hier kommt die Welt zu Besuch. Das gibt mir Nahrung, weiter zu forschen. Mittlerweile gleicht meine Arbeit fast einem wissenschaftlichen Projekt.“ Es geht ihm nicht nur um gute Bilder. Er erkundet Herkunft, technische Daten und Lebensläufe von allem, was schwimmt, motorisiert ist und nicht von Freizeitkapitänen gesteuert wird.
Die Liebe zu Schiffen lag Thomas Kunadt zunächst fern. Geboren und aufgewachsen in Räckelwitz bei Bautzen waren Seeschiffe ganz weit weg. „Ich bin mit der Botanik groß geworden, habe mich vor allem für Nadelbäume interessiert“, sagt der 47-jährige Wahlhamburger. „Damals habe ich Carl von Linnés Systematik der Pflanzwelt kennen gelernt, die Einteilung in Ordnung, Familie, Gattung, Art und so weiter.“
Als Kunadt 1991 nach Hamburg kam, wollte er Musik studieren. Seit 1995 studiert er Schiffe. Als Buchautor und neuerdings auch auf Hafenrundfahrten bringt er sein gesammeltes Wissen unter die Leute.
Bei seinem neuen Buch „Hamburger Schiffe – Was schwimmt denn da?“ schimmert Kunadts frühere Passion durch, es ähnelt einem Bestimmungsbuch. So wie sich die bunte Vielfalt der Pflanzenwelt in die Linnésche Systematik gliedert, sind hier Schiffstypen wie Containerfrachter, Feederschiffe, Bulker, Mehrzweckfrachter in (Größen-)Klassen und Untergruppen unterteilt. Und es ist wie in der Natur: Nicht immer fällt die Bestimmung leicht. Für maritime Laien folgt hier eine grobe Orientierung:
Containerschiffe erkennt natürlich jeder Hafenbesucher, schließlich steht ein Großteil der bunten Stahlbehälter deutlich sichtbar an Deck der Frachter. Die größten ihrer Art transportieren mehr als 15.000 Standardcontainer (TEU, Twenty-foot Equivalent Unit, gut sechs Meter lange 20-Fuß-Container) und messen fast 400 Meter. Steuert so ein Riese Hamburg an, wird es für ihn im Hafen eng – zumindest bei der Ankunft, wenn er gedreht wird, damit er zur Abfahrt richtig liegt.
Die größten Containerschiffe verbinden Ostasien mit Europa – riesige Pötte, oft fast bis zur Kommandobrücke zugestapelt. Es sei eine Herausforderung, die Schiffe so zu fotografieren, dass ihre Größe auch noch auf einem kleinen Bild zum Ausdruck kommt, sagt Kunadt. Der Fotograf kann den Kolossen noch Ästhetik abgewinnen, wenn auch mit etwas Mühe: „Auch an Containerschiffen gibt es irgendeine Ecke mit Rundungen. Die muss man entdecken, denn Bilder werden spannend, wenn Rundungen eine Rolle spielen.“
Feeder sind die Lastesel der Regionen. Sie verteilen oder bringen die Ladung, die die Containerriesen auf ihren Fernrouten heranschaffen oder exportieren. Wenn die Feederschiffe zwischen den interkontinentalen Frachtern am Kai liegen, wirken sie klein. Doch auch sie können bis zu 1600 TEU-Container transportieren.
Feeder sind quasi der maritime Paketdienst. Sie sammeln am Containerterminal Fracht zusammen, um sie nach Skandinavien, Russland oder ins Baltikum zu transportieren. Das komplexeste Netzwerk betreibt die dänische Reederei Unifeeder: Fast 50 Unifeeder-Schiffe verbinden mehr als 50 Häfen miteinander.
Bulker und Tanker können sich größenmäßig mit den Containerriesen messen. Die größten Exemplare unter diesen Massengutfrachtern sind ebenfalls mehrere hundert Meter lang und haben hohe Tragfähigkeiten. Das schwerste Schiff, das Hamburg je anlief, war kein Containerriese, sondern ein Erzfrachter: Die „Amy N“ legte mit 161.000 Tonnen Fracht aus Brasilien am Hansaport an.
Bulker und Tanker unterscheiden sich durch die Ladung: Bulker, auch Trockenfrachter genannt, transportieren Schüttgut wie zum Beispiel Getreide, Ölsaaten, Kalidünger, Kohle oder Erz, Tanker dagegen Öl und andere Flüssigkeiten.
Die Supertanker, die mehr als 250.000 Tonnen transportieren, sind in Hamburg inzwischen ausgestorben. 1992 lief der letzte seiner Art den Hamburger Hafen an – zur Reparatur im Großdock Elbe 17 von Blohm+Voss. Kleinere Exemplare mit einer Tragfähigkeit um die 100.000 Tonnen kommen regelmäßig nach Hamburg, etwa um im Kattwykhafen oder in den Harburger Seehäfen Raffinerien zu beliefern.
Mehrzweckfrachter gibt es, wie der Name vermuten lässt, in vielen Ausführungen. Einige sind mit starken Kränen ausgestattet, um Kessel, Windrotorenblätter, kleinere Schiffe oder sperrige Industrieaggregate, die nicht in einen Container passen, an Bord zu hieven. Viele fahren im Liniendienst, der seit mehr als 100 Jahren bestehen kann: Die ältesten Fahrpläne der Rickmers-Reederei reichen ins Jahr 1896 zurück. In dem Jahr lief auch die „Rickmer Rickmers“ vom Stapel, die heute als Museumsschiff an den Landungsbrücken vertäut ist.
Noch größere Lastenesel sind die Schwergutfrachter. Wie bei den kräftigsten Mehrzweckfrachtern sind ihre mächtigen Kräne oft seitlich angeordnet, damit sich das gewichtige Stückgut besser an Deck manövrieren lässt.
Autofrachter sind die Gegenstücke zu den Mehrzweckschiffen: Sie transportieren Pkw – und davon reichlich. Die schwimmenden Garagen sind meist um die 200 Meter lang, haben 13 Decks, auf denen insgesamt mehr als 6000 Autos parken. Die Schiffe bestehen fast nur aus fensterlosen Bordwänden. Die flachen Decksaufbauten sind Mannschaftsunterkünfte, auf denen die Brücke thront.
Die klobigen Autofrachter sind für den Schiffsbeobachter relativ leicht zu bestimmen. Noch leichter macht es die „City of Hamburg“ dem Schiffsfan. „Airbus on board“ steht in großen weißen Lettern an der königsblauen Bordwand. Der Frachter sowie die Schwesterschiffe „Ville de Bordeaux“ und „Ciudad de Cadiz“ bringen Flugzeugteile von Finkenwerder nach Bordeaux. Dort reisen sie auf dem Landweg zur Endfertigung nach Toulouse.
Binnenschiffe hat Thomas Kunadt erst in jüngerer Zeit verstärkt ins Visier genommen: „Sie sind unscheinbar, fallen im Hafen kaum auf. Aber schauen Sie, da vorn liegt die ,Tor Elbe’. Ihr Baujahr ist 1897. Sie hat zwei Weltkriege überstanden und ist immer noch im Dienst. Binnenschiffe sind oft in Familienbesitz und werden von ihren Eignern liebevoll gepflegt. Zudem sind sie weniger Wellen und keinem Salzwasser ausgesetzt. Ein Seeschiff in diesem Alter wäre längst Museumsschiff – oder verschrottet.“
Viele andere Schiffstypen tummeln sich auf der Elbe: RoRo-Frachter und Kühlschiffe, Fischerei- und Behördenfahrzeuge, Kreuzfahrer, Forschungsschiffe, Schlepper, Lotsenboote, Fähren, Barkassen und, und, und. Thomas Kunadt mag sie alle und hat sie fotografisch eingefangen. Als er nach Hamburg kam, war er vom Wasser und der Weite fasziniert. „Zuerst habe ich den Fluss fotografiert. Aber dann habe ich festgestellt, dass die Elbe mit Schiffen noch schöner ist“, erzählt der Hafenforscher – und spürt auch heute noch einen „magischen Moment“, wenn er auf einer Barkasse unter der Köhlbrandbrücke hindurch fährt.
Zum Weiterlesen: Hamburger Schiffe – Was schwimmt denn da?, Thomas Kunadt, KJM Verlag, 128 Seiten, 15 €, ISBN 978-3-945465-02-8Das Buch ist auch beim Abendblatt erhältlich: www.abendblatt.de/shop, telefonische Bestell-Hotline: 040/333 66 999
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