Berlin. Immer mehr Pflegebedürftige und Leistungsausweitungen setzen den Pflegekassen zu. Experten sagen, was zu tun ist – und was Versicherten droht.
In Deutschland werden immer mehr Menschen pflegebedürftig – das setzt die Pflegeversicherung finanziell unter großen Druck. Einem Bericht zufolge droht sogar die Zahlungsunfähigkeit. Die Ampel will nun gegensteuern. Wichtige Fragen und Antworten zur Lage und zu möglichen Wegen aus der Krise.
Wie schlimm steht es um die gesetzliche Pflegeversicherung?
Einem Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) zufolge ist die Lage dramatisch. Werde nichts getan, sei die Pflegeversicherung spätestens im kommenden Februar zahlungsunfähig, schreibt das RND und beruft sich dabei auf Quellen aus der Ampelkoalition. Ein Sprecher von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bestätigte den Bericht in der Form zunächst nicht.
„Die Pflegeversicherung ist nicht pleite. Dafür wird der Gesetzgeber sorgen. Was momentan passiert, ist ein ganz normaler Mechanismus in der Pflege. Wenn die Kosten überproportional steigen, muss man reagieren“, sagte der Sprecher dieser Redaktion. Derzeit werde an einem Konzept gearbeitet, mit dem die Versicherung sowohl kurz- als auch langfristig wieder auf stabilere Füße gestellt werden soll.
Warum ist die Lage so prekär?
Grundsätzlich steht die Pflegeversicherung unter Druck, weil immer mehr Menschen gepflegt werden müssen und die Ausgaben steigen. Derzeit gelten mehr als 5,2 Millionen Menschen in Deutschland als pflegebedürftig. Langfristig werden es noch mehr: Laut Prognosen könnten hierzulande im Jahr 2070 bereits rund 7,7 Millionen Menschen auf Pflege angewiesen sein.
Die Pflegekassen rechnen für das laufende Jahr mit einem Defizit von 1,5 Milliarden Euro, für 2025 mit 3,5 Milliarden Euro. Um die Lücke zu decken, wäre rechnerisch eine Beitragsanhebung von 0,2 Prozentpunkten nötig. Innerhalb der Regierung werde dem RND zufolge aber stattdessen von einem Erhöhungsbedarf von 0,25 bis 0,3 Punkten ausgegangen.
Neben der steigenden Zahl von Leistungsberechtigten gibt es Experten zufolge weitere Gründe für die Schieflage. Gesundheitsökonom Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen nennt auch die Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs im Jahr 2017 als Grund. Seitdem profitieren auch Demenzkranke von den Leistungen der Pflegeversicherung. Hinzu kämen Leistungsausweitungen in jüngster Zeit: „Hier ist insbesondere anzusprechen, dass die Pflegeversicherung nunmehr bis zu 70 Prozent der Eigenanteile der Pflegebedürftigen an den Heimkosten übernimmt. Das entlastet zwar die Betroffenen und die Sozialhilfeträger, führt aber zu entsprechenden Mehrausgaben der Pflegekassen“, erklärte Wasem dieser Redaktion.
Nunmehr seien die Reserven der Pflegeversicherung, die Ende vergangenen Jahres noch knapp sieben Milliarden Euro betragen hätten, weitgehend aufgebraucht. Monatlich würden deutlich mehr Mittel ausgegeben als eingenommen, so Wasem weiter.
Wie teuer würde die Beitragserhöhung für Versicherte?
Derzeit gilt in der Pflegeversicherung ein allgemeiner Beitragssatz von 3,4 Prozent. Kinderlose zahlen 4 Prozent, Versicherte mit Kindern weniger. „Bei einem Bruttogehalt von 3.000 Euro bedeuten 0,2 Beitragssatzpunkte monatlich einen Mehrbeitrag von 6 Euro, den sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen. Die Rentner müssten die Mehrbelastung alleine tragen“, rechnet Gesundheitsökonom Wasem vor. 2025 drohen darüber hinaus auch Beitragsanstiege bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Alles zusammen könnte die Sozialbeiträge zum Jahresanfang so stark steigen lassen wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr.
Gibt es auch andere Optionen?
Eine Erhöhung des Beitragssatzes ist nicht die einzige Variante. Denkbar wäre auch ein Zuschuss aus Steuergeldern. Darüber besteht innerhalb der Koalition allerdings keine Einigkeit. Die Pflegekassen pochen schon länger darauf, dass der Bund für die pandemiebedingten Zusatzkosten in Höhe von 5,5 Milliarden Euro aufkommt.
Was sagen Experten?
Fachleute plädieren für eine grundlegende Reform. Wolfgang Greiner, Lehrstuhlinhaber für Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität Bielefeld, sagte dieser Redaktion: „Wenn eine teilweise Steuerfinanzierung aus fiskalischen Gründen nicht möglich ist, muss man über ein sozialeres Modell der Selbstbeteiligung nachdenken.“ Für möglich halte er zum Beispiel die Einführung einer einjährigen Karenzzeit, also eines Zeitraumes, in dem zwar eine Versicherung besteht, aber noch keine Leistungen gewährt werden. „Das wäre privat, entweder obligatorisch oder freiwillig gut absicherbar. Die soziale Absicherung wäre über die Hilfe zur Pflege weiter gesichert“, so Greiner weiter.
Der Wirtschaftsweise Martin Werding sieht kurzfristig keine Maßnahmen, um gegenzusteuern. Vielmehr müssten die Beiträge zur Pflegeversicherung sogar noch stärker steigen, wenn alle derzeit bestehenden Ansprüche, insbesondere auf Unterstützung häuslicher Pflege, wirklich genutzt würden. „Das ist angesichts des massiven Fachkräftemangels in diesem Bereich derzeit allerdings gar nicht möglich“, sagte Werding dieser Redaktion.
Der Dachverband der Betriebskrankenkassen BKK forderte die Bundesregierung auf, mit einem Steuerzuschuss auf die Schieflage der Pflegeversicherung zu reagieren. „Dazu gehören die Übernahme von Rentenversicherungsbeiträgen für pflegende Angehörige, die Kosten, die durch die Pandemie entstanden sind und die Ausbildungskosten der Pflegefachpersonen. Das würde den Beitragssatz nach unseren Berechnungen mittelfristig stabil halten“, sagte die BKK-Vorständin Anne-Kathrin Klemm dieser Redaktion.
Wie reagieren Sozialvertreter?
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) plädiert für eine umfassende Änderung. „Wir brauchen eine Pflegevollversicherung, die alle Kosten abdeckt und die Pflegebedürftigen spürbar entlastet. In diese Bürgerversicherung müssen alle einzahlen – Privatversicherte wie Selbstständige und Verbeamtete. Und wir sagen: Bei der Erhebung der Beiträge müssen die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und damit auch weitere Kapitaleinkünfte herangezogen werden, wie Einnahmen aus Vermietung, Verpachtung sowie Kapitaleinkommen“, so SoVD-Vorstandschefin Michaela Engelmeier. Beamte können sich bislang entscheiden, ob sie in die gesetzliche Pflegeversicherung wollen oder eine private Versicherung bevorzugen.
Was sagt die Wirtschaft?
Der Spitzenverband der Arbeitgeber warnt vor steigenden Arbeitskosten für Unternehmen. „Ohne eine grundlegende und nachhaltige Strukturreform droht die Belastung der Arbeitskosten durch Pflegeversicherungsbeiträge in den kommenden Jahren erheblich weiter zu steigen“, warnte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, gegenüber dieser Redaktion. Er verwies auch auf eine OECD-Erhebung, wonach Deutschland in Europa schon jetzt auf Platz 2 bei der Belastung des Faktors Arbeit durch Steuer und Sozialabgaben stehe. Außerdem pocht der BDA darauf, dass der Bund pandemiebedingte Mehrkosten an die Pflegekassen zügig erstattet. „Die Politik der klebrigen Finger auf Kosten der Beitragszahler muss ein Ende haben“, so Kampeter.
Welche Stimmen kommen aus der Politik?
Die Unionsfraktion im Bundestag griff Bundesgesundheitsminister Lauterbach scharf an. „Die Bundesregierung fährt die Pflegeversicherung seit bald drei Jahren durch Nichtstun mit Ansage gegen die Wand“, sagte der gesundheitspolitische Sprecher von CDU/CSU, Tino Sorge, dieser Redaktion. Noch im Mai sei Minister Lauterbach von einem angeblich „explosionsartigen Anstieg bei den Pflegebedürftigen“ überrascht worden. „Dieser war aber allen Experten bereits bekannt“, so Sorge.
Der Bundesregierung laufe nun mit Blick auf die finanzielle Schieflage der Pflegeversicherung die Zeit davon. „Wir brauchen einen Finanzierungsmix für die Pflegeversicherung, der neben Steuermitteln, öffentlicher und betrieblicher Vorsorge auch Elemente der Eigenvorsorge beinhaltet“, forderte Sorge. Vorschläge der Unionsfraktion lägen dazu auf dem Tisch.
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