Hamburg. Bekannt wurde aidhere in der „Höhle der Löwen“. Dann standen die Hamburger vor dem Aus. Wie es nun weitergeht und was die App kann.

  • TV-Show „Die Höhle der Löwen“ beschert Abnehm-App aus Hamburg Millionenpublikum
  • Ein großer Erfolg für das Start-up adihere, das die Smartphone-Anwendung entwickelt hat
  • Doch dann bekommt das Unternehmen Finanzprobleme und muss Insolvenz anmelden

Eigentlich lief beim Hamburger Start-up aidhere alles nach Plan. Die Gründer Henrik Emmert, Tobias Lorenz und Nora Mehl hatten für ihre Abnehm-App Zanadio schnell eine (vorläufige) Kassenzulassung erhalten.

Mehrere 10.000 Menschen mit starkem Übergewicht (Adipositas) haben sich bislang bei der digitalen Gesundheitsanwendung registriert, um mit wissenschaftlicher Unterstützung abzuspecken. Nicht zuletzt ein Auftritt in der TV-ShowDie Höhle der Löwen“ hatte den Hamburgern ein Millionenpublikum beschert.

Doch dann reduzierte der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-SV) im vergangenen Jahr die Erstattungen für die App auf Rezept um mehr als die Hälfte – von 499,80 Euro auf 218 Euro für drei Monate. Die Folge: Aidhere rutschte in ein gravierendes Liquiditätsproblem und musste im Mai 2023 Insolvenz anmelden. Erst am Dienstag eröffnete das Amtsgericht Hamburg offiziell das Verfahren. Aber jetzt gibt es Hoffnung.

„Höhle der Löwen“: Abnehm-App soll mit zwei Käufern aus Insolvenz gerettet werden

„Nach langen Verhandlungen haben wir eine hervorragende Lösung für das Unternehmen aidhere erreicht“, sagt Insolvenzverwalter Matthias Wolgast von der Hamburger Rechtsanwaltskanzlei Münzel & Böhm. Demnach übernimmt ein Investor das Tech-Start-up und will den Betrieb weiterführen. Mit einem weiteren Investor wurde eine isolierte Lösung für eine von aidhere entwickelte App gefunden.

„Für die Investoren ist es eine Akquisition mit Wachstumsperspektiven in einem positiven Marktumfeld“, so der Sanierungsexperte. Nach Abendblatt-Informationen sind die Verträge am Donnerstagnachmittag unterschrieben worden. Zu den Namen und der konkreten Fortführungsperspektive machte Wolgast noch keine Angaben. Die Gläubiger müssen der Sanierung noch zustimmen.

Abspecken mit verhaltenswissenschaftlicher Unterstützung

Gegründet worden war das Unternehmen 2019. Psychologin Nora Mehl hatte sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit mit dem Thema Adipositas beschäftigt und das Potenzial für eine Praxisanwendung erkannt. Gemeinsam mit dem Wirtschaftsingenieur und Unternehmensberater Henrik Emmert und Wirtschaftswissenschaftler Tobias Lorenz entwickelte sie die Abnehm-App Zanadio, die nach eigenen Angaben auf verhaltenstherapeutischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen basiert.

Psychologin Nora Mehl hatte sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit mit dem Thema Adipositas beschäftigt und das Potenzial für eine Praxisanwendung erkannt.
Psychologin Nora Mehl hatte sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit mit dem Thema Adipositas beschäftigt und das Potenzial für eine Praxisanwendung erkannt. © Aidhere

Faktisch führt die App eine Art Tagebuch, zählt Kalorien, gibt Tipps für gesündere Ernährung und motiviert zu Bewegung. Langfristig sollen so Verhaltensänderung erreicht werden – und eine stabile Gewichtsreduzierung jenseits von üblichen Diäten. Im Oktober 2020 hatte aidhere als eines der ersten Unternehmen eine Zulassung vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte erhalten.

Kurz zuvor war das Digitale Versorgungsgesetz in Kraft getreten, auf dessen Grundlage digitale Gesundheitsanwendungen (DiGa) bei bestimmten Erkrankungen ärztlich verordnet oder direkt bei der Krankenkasse beantragt werden können. Auch einige private Kassen übernehmen die Kosten. Ein ganz neuer Markt. Aktuell sind im DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts 40 Anwendungen gelistet.

Millionen Deutsche sind stark übergewichtig

Adipositas ist ein großes Thema, auch in Deutschland. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts sind hierzulande zwei Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen zu dick. Jeweils knapp ein Viertel gelten als stark übergewichtig (adipös) – mit dem erhöhten Risiko, an Bluthochdruck, Diabetes oder Krebs zu erkranken. Aus Sicht der aidhere-Gründer setzt die medizinische Unterstützung für diese Gruppe meist zu spät an. Die App Zanadio, deren Wirkung bei mehreren Studien getestet wurde, schließe diese Versorgungslücke. Verordnen lassen können sie sich Übergewichtige mit einem Body-Mass-Index zwischen 30 und 40 von einem Arzt oder Psychotherapeuten.

Um Geldgeber für die Weiterentwicklung ihrer App auf Rezept einzuwerben, hatten sich die aidhere-Gründer bei der Vox-Show „Die Höhle der Löwen“ beworben. In der Sendung, die im Frühjahr 2021 ausgestrahlt worden war, hatten die Gründer einen toughen Deal aufgerufen: 500.000 Euro für acht Prozent der Firmenanteile. Eine Bewertung von mehr als sechs Millionen Euro für eine Neugründung, die zum Zeitpunkt der Aufzeichnung gerade mal ein paar Monate alt war. Alle „Löwen“ winkten ab.

30.000 Patienten specken insgesamt fast 100 Tonnen mit App ab

Aber es gab wie üblich nach der Ausstrahlung der Sendung Tausende Aufrufe auf der Internetseite. Und es fanden sich andere Investoren, die zusammen eine siebenstellige Summe in das junge Unternehmen steckten. Nach Angaben von aidhere haben inzwischen mehr als 30.000 Patientinnen und Patienten die App genutzt. Dadurch seien Gewichtsreduktionen von insgesamt fast 100 Tonnen erreicht worden.

Die Probleme fingen an, als der Krankenkassen-Verband im vergangenen Jahr den festgelegten Vergütungsbetrag im Rahmen der App auf Rezept von zunächst knapp 500 Euro für 90 Tage infrage stellte. Die Kassenvertreter befanden die Preise zu hoch bemessen am Nutzen für die Anwender.

Nach einem Schiedsstellenverfahren, bei dem ein auf weniger als die Hälfte gesenkter Betrag festgesetzt wurde, war klar, dass es eng für aidhere wird. Denn das Start-up muss rückwirkend auch die zu viel erstatteten Summen zahlen. Am 23. Mai hatten die Geschäftsführer Insolvenz angemeldet.

„Höhle der Löwen“: Abnehm-App-Gründer bleiben nach Übernahme im Unternehmen

Dass nun ein Neustart in greifbarer Nähe ist, sorgt für große Erleichterung bei den Machern der Abnehm-App. „Wir sind froh und dankbar für die gute Lösung“, sagt Co-Geschäftsführer Henrik Emmert auf Abendblatt-Anfrage. Nach jetzigem Stand werden er und seine beiden Mitgründer weiterhin im Unternehmen bleiben – künftig als Angestellte.